«Studien zeigen, dass…»: Kampf gegen Wissenschaftsmythen

Wie war das nochmal: Benutzen wir nur 10% unseres Hirns? Enthält Spinat tatsächlich viel Eisen? Und schadet Lesen unter der Decke wirklich den Augen? Nein, nein und nein. Wie Wissenschaftsmythen mit der richtigen Kommunikation bekämpft werden können.

von Olivia Meier, wissenschaftliche Assistentin am IUED Institut für Übersetzen und Dolmetschen sowie Vorstandsmitglied und Blog-Verantwortliche von reatch.

Legenden, Gerüchte, Mythen und Verschwörungstheorien – Dinge, die uns Menschen schon seit jeher fesseln. Ihnen gemeinsam: ziemlich viel Unwahres sammelt sich um ein kleines Körnchen Wahrheit. Die Wissenschaft hat es dabei nicht leicht. Obwohl die meisten Verschwörungstheorien klar entkräftet, die meisten Mythen widerlegt wurden, scheinen sie sich hartnäckig in den Köpfen vieler zu halten. Ein kleines Beispiel: Was meinst du, schadet Lesen bei schlechtem Licht den Augen? Lautet deine Antwort Ja, bist du einem weitverbreiteten Mythos aufgesessen [1]. Solche und andere Aussagen, die auf keiner wissenschaftlichen Grundlage beruhen oder die die Wissenschaft sogar klar widerlegen kann, werden als Wissenschaftsmythen bezeichnet.

Ein Problem mit vielen Ursachen

Dass sich solche Mythen nach wie vor grosser Beliebtheit erfreuen, hat verschiedene Gründe. Vieles hängt damit zusammen, wie wir denken. Zum Beispiel bilden wir bei der Aufnahme von neuen Informationen ein mentales Modell [2], das äusserst stabil bleibt. Kleine Änderungen sind zwar möglich, aber ganz grundsätzliche Anpassungen gelingen nur mit Mühe. Das gilt insbesondere dann, wenn für den widerlegten Wissenschaftsmythos keine überzeugende Alternativerklärung bereitsteht. Ein zwar falsches, aber vollständiges Modell von der Welt wird gegenüber einem richtigen, aber unvollständigen Modell bevorzugt [3]. Wir halten uns also lieber an den Mythos als an dessen Korrektur.

Besonders hartnäckig halten sich Wissenschaftsmythen dann, wenn wir sie schon einmal gehört haben und sie uns deshalb bekannt vorkommen. Nach dem illusory truth effect, der auf eine Studie von 1977 zurückgeht [4], bewerten wir leider oft das als richtig, was uns vertraut erscheint. Weil Mythen sowohl von den verbreitenden Quellen als auch von solchen, die sie widerlegen wollen, ständig wiederholt werden, erhöhen sich die Chancen, dass noch mehr Leute die Aussage für richtig halten. Ganz nach dem Motto: «Das hab ich irgendwo schon mal gehört. Das muss stimmen.»

Zudem sind wir bei der Informationsaufnahme meist etwas faul. Wir verarbeiten Informationen nicht systematisch, sondern eher automatisch. Vor allem im digitalen Zeitalter mit seiner Flut an Informationen neigen wir dazu, beim Surfen im Web oder beim Lesen einer Online-Nachricht (zu) wenig aufmerksam zu sein. Somit entgehen uns oft wichtige Zusatzinformationen. Schauen wir uns beispielsweise ein Video der verbreitetsten Wissenschaftsmythen an, können wir uns zwar die genannten Mythen rasch ins Gedächtnis rufen. Schwieriger wird es aber, sich zu erinnern, ob diese Mythen als wahr oder falsch entlarvt wurden. Und wenn wir oberflächlich einen Artikel zum Thema «Verursacht Kaffee Krebs?» lesen, dann wird uns erst einmal die Verbindung von Kaffee und Krebs in Erinnerung bleiben – ganz gleich, wie der Inhalt des Artikels lautete bzw. wie die Datenlage aussieht.

Ausserdem kann auch ungenügende Kenntnis wissenschaftlicher Prozesse die Verbreitung von Wissenschaftsmythen begünstigen. Vielen fehlt ganz einfach das nötige Wissen darüber, was wissenschaftliche Evidenz ausmacht und welche grundsätzlichen Kriterien bei Experimenten befolgt werden müssten, damit sie anerkannte Informationen liefern. So können reisserische Titel wie Schokolade macht schlank! sich in unseren Köpfen einnisten, obwohl die «Studien», die solche Aussagen angeblich belegen, wissenschaftliche Standards nicht erfüllen. Typische Wendungen wie «Studien zeigen, dass» oder «eine Umfrage hat ergeben» suggerieren Wissenschaftlichkeit, wo sie nicht immer zu finden ist.

Warum gegen Windmühlen kämpfen?

Dass Wissenschaftsmythen nach wie vor weit verbreitet sind, scheint auf den ersten Blick nicht weiter schlimm. Tatsächlich ist es nicht allzu verheerend, wenn wir glauben, (Achtung es folgen Mythen!) dass unser Herz der fleissigste Muskel unseres Körpers ist, Vitamin C vor Erkältungen schützt oder Q10 unser Hautbild verjüngt. In diesen harmlosen Fällen glänzen wir schlimmstenfalls mit falschem Wissen oder geben Geld für Produkte aus, die eigentlich gar nichts nützen – ärgerlich, aber nicht gefährlich. Wenn sich aber Mythen verbreiten wie (Achtung es folgen Mythen!) «diese Diät kann Krebs heilen» oder «Impfungen führen zu Autismus», hat das gefährliche, weitreichende Konsequenzen sowohl für einzelne Individuen als auch die Gesellschaft. Die aktuell immer lauter werdenden Stimmen, die behaupten, Autismus sei eine Folge des Impfens, haben beispielsweise bereits zu sinkenden Impfquoten und Masernausbrüchen geführt. Und die Diskussionen um Einzelheiten der wissenschaftlichen Forschungslage zum Klimawandel hemmen die dringend notwendigen Massnahmen aus Politik und der Bevölkerung.

Wissenschaftsmythen können ausserdem der Wissenschaft insgesamt schaden. Denn sie werden meist nicht als aus der Luft gegriffen präsentiert, sondern hüllen sich in ein quasi-wissenschaftliches Gewand. Fast jede Studie lässt sich für Mythen missbrauchen, wenn genau jene Erkenntnisse herausgepickt und überspitzt dargestellt werden, die der eigenen Sache dienen. Oder man bedient sich methodisch fragwürdiger Studien, die genau das aussagen, was man möchte. Dieser undifferenzierte Umgang mit Wissenschaftlichkeit und ihren Kriterien schadet der gesamten Wissenschaft und ihrer Akzeptanz in der Bevölkerung. Für Nicht-WissenschaftlerInnen wird es noch schwieriger vertrauenswürdige von unglaubwürdigen Quellen abzugrenzen, wenn sich letztere hinter dem Schleier falscher Wissenschaftlichkeit verbergen. So berufen sich viele Klimawandel-SkeptikerInnen darauf, dass es WissenschaftlerInnen gebe, die vom Klimawandel nicht überzeugt seien – ohne jedoch zu erwähnen, dass die meisten dieser ForscherInnen aus ganz anderen Wissenschaftsbereichen stammen.

Mythen bekämpfen erfordert kommunikatives Geschick

Im Idealfall bekämpft man Mythen bereits bevor sie entstehen. Das Entlarven einzelner Wissenschaftsmythen gleicht nämlich oft einem Tropfen auf dem heissen Stein. Vor allem, da sich gezeigt hat, dass selbst eine korrigierte Falschinformation nach wie vor Einfluss auf unser Denken und Handeln haben kann (Continued Influence Effect [5]) und Versuche, eine Mythe aus der Welt zu schaffen, manchmal dazu führen, dass noch mehr an die falsche Information geglaubt wird als zuvor(Backfire Effekt [6]).

Wie verhindert man Wissenschaftsmythen? Vor allem mit der richtigen Kommunikation. Hier sind zwei Gruppen gefordert: WissenschaftlerInnen und die Medien.

Im Idealfall gelangen nur wissenschaftliche Aussagen mit hoher Evidenzkraft an die Öffentlichkeit, sodass Mythen gar nicht erst entstehen können. Dazu braucht es einerseits hochwertige Studien aus der Wissenschaft und andererseits WissenschaftlerInnen, die bereit sind, diese gegen aussen differenziert und transparent zu kommunizieren und sich somit das Vertrauen der Öffentlichkeit zu erarbeiten. Das braucht kommunikative Schulung und einiges an Übung. Das heisst: Raus aus dem Elfenbeinturm und rein in den Dialog!

Die Medien müssen wieder auf JournalistInnen setzen, die sich in der Forschung auskennen und befähigt sind, die Fachsprache der Wissenschaft in für alle verständliche Informationen zu verwandeln. Der Kampf um die Aufmerksamkeit der LeserInnen und der zunehmende Druck, möglichst rasch die neuesten Nachrichten zu veröffentlichen, hat leider vermehrt dazu geführt, dass Informationen nicht genügend hinterfragt und recherchiert werden. Wissenschaft darf aber nicht für reisserische Schlagzeilen missbraucht werden. Die Medien müssen sich dieser Verantwortung wieder bewusst werden. Gleichzeitig müssen wir als LeserInnen wieder anfangen, den Wert von gut recherchierten Informationen zu schätzen – und dafür zu bezahlen.

Aber was tun, wenn es bereits zu spät ist? Beim Widerlegen von Wissenschaftsmythen ist einiges zu beachten:

Zuerst sollte die systematische Informationsverarbeitung begünstigt werden. Um zu verhindern, dass Entlarvungen von Mythen nur beiläufig rezipiert werden, sollte vor der Nennung eines Mythos eine Warnung erfolgen: «Achtung, die folgende Aussage ist falsch!» Am besten sollte der Mythos so wenig wie möglich wiederholt werden, damit er für RezipientInnen nicht noch vertrauter wird. Stattdessen sollte man das Vertrauen und die Glaubwürdigkeit in die entlarvende Quelle stärken. Die Widerlegung von Mythen soll zudem von einfachen Erklärungen begleitet werden, die durch Qualität überzeugen. Hier ist eine leicht verständliche Sprache mit anschaulichen Beispielen gefragt – keine Schachtelsätze voller Fachbegriffe! Im Gegenzug soll beleuchtet werden, warum gewisse Wissenschaftsmythen gestreut werden und weshalb die verbreitenden Quellen nicht vertrauenswürdig sind.

«Last but not least» muss es Ziel unserer Bildung werden, kritisches Denken und den Umgang mit einer Vielzahl an unterschiedlichsten Quellen zu fördern. Die Öffentlichkeit soll verstehen, welche Kriterien gute Wissenschaft ausmachen und auf welche Punkte zu achten ist, wenn es in gewissen Artikeln bloss heisst «Studien besagen, dass». Nur so wird es möglich, dass alle mit der wachsenden Menge an Informationen, die uns zur Verfügung stehen, sinnvoll umgehen können.

Referenzen

[1] Vreeman, Rachel C. & Carroll, Aaron E. (2007). Medical Myths. The bmj. Verfügbar unter: https://www.bmj.com/content/335/7633/1288.full.print.

[2] Swire, B., & Ecker, U. K. H. (2018). Misinformation and its correction: Cognitive mechanisms and recommendations for mass communication. Misinformation and mass audiences, 195-211. Verfügbar unter: https://www.emc-lab.org/uploads/1/1/3/6/113627673/chapter_swireecker_revised.pdf.

[3] Ecker, U. K., Lewandowsky, S., Swire, B., & Chang, D. (2011). Correcting false information in memory: Manipulating the strength of misinformation encoding and its retraction. Psychonomic Bulletin & Review, 18(3), 570-578. Verfügbar unter: https://link.springer.com/article/10.3758/s13423-011-0065-1.

[4] Hasher, L., Goldstein, D., & Toppino, T. (1977). Frequency and the conference of referential validity. Journal of verbal learning and verbal behavior, 16(1), 107-112. Verfügbar unter: http://bear.warrington.ufl.edu/brenner/mar7588/Papers/hasher-et-al-jvvb-1977.pdf.

[5] Johnson, H. M., & Seifert, C. M. (1994). Sources of the continued influence effect: When discredited information in memory affects later inferences. Journal of Experimental Psychology: Learning, Memory, and Cognition, 20 (6), 1420-1436. Verfügbar unter: https://www.researchgate.net/publication/232501255_Sources_of_the_Continued_Influence_Effect_When_Misinformation_in_Memory_Affects_Later_Inferences.

[6] Nyhan, B., & Reifler, J. (2010). When Corrections Fail: The Persistence of Political Misperceptions. Political Behavior, 32, 303-330. Verfügbar unter: https://link.springer.com/article/10.1007/s11109-010-9112-2?LI%3Dtrue.

[7] Kull, S., Ramsay, C. & Lewis, E. (2003). Misperceptions, the Media, and the Iraq War. Political Science Quarterly, Vol. 118 (4), 569-598.

Quellen

Kessler, Sabrina Heike (2019). Von der Kunst, Mythen und Falschmeldungen zu widerlegen. Medienwoche. Magazin für Medien, Journalismus, Kommunikation & Marketing. Verfügbar unter: https://medienwoche.ch/2019/06/11/von-der-kunst-mythen-und-falschmeldungen-zu-widerlegen/.

Scudellari, Megan (2015). The science myths that will not die. Nature. International weekly journal of science. Verfügbar unter: https://www.nature.com/news/the-science-myths-that-will-not-die-1.19022.

Credits: Olivia Meier


Dieser Beitrag wurde auf dem Blog von reatch erstveröffentlicht. Vielen Dank reatch für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung.


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert