Welche Rolle spielten die Medien im Justizfall Ignaz Walker? Der Fall löste über Jahre ein immenses Medienecho aus. Ein IAM-Forschungsteam hat die Rolle der Medien umfassend untersucht – und Walker im Gefängnis besucht.
Von Guido Keel, Institutsleiter, IAM Institut für Angewandte Medienwissenschaft, und Vinzenz Wyss, Leitung Professur für Journalistik.
An einem heissen Augustmorgen sitzen wir, Guido Keel und Vinzenz Wyss, am Tisch der Besucherschleuse in der Justizvollzugsanstalt Grosshof in Kriens, Luzern. Wir warten auf den zu zehn Jahren verurteilten Urner Häftling Ignaz Walker. Pünktlich um 10 Uhr öffnet ein Polizist eine zweite Tür und Ignaz Walker begrüsst uns mit drei Vanille-Glacés in der Hand. Der Besuch im Gefängnis ist der Schlusspunkt einer Studie, die uns über sechs Monate beschäftigt hat. Die Justizdirektion des Kantons Uri kontaktierte uns im Januar 2019 mit der Anfrage, ob wir bereit wären, ein Gutachten zur Rolle der Medien zum über sechs Jahre dauernden Gerichtsprozess im Fall Walker zu erstellen. Ohne mit dem Fall vertraut zu sein, sagten wir zu, weil uns als Journalismusforscher die medienethisch anspruchsvolle Justizberichterstattung interessiert.
Neun Jahre, über 600 Medienberichte und tausende Seiten Ermittlungsakten
Schon beim ersten Studium einzelner Zeitungsartikel zum Fall Walker erkannten wir aber, dass sich unsere Aufgabe um einiges komplexer gestalteten würde, als wir zunächst angenommen hatten. Da war einmal der Fall an sich: Im November 2010 wurde in Erstfeld eine Frau durch drei Schüsse lebensbedrohlich verletzt. Ihr Ehemann, Ignaz Walker, wurde verdächtigt, einen Auftragsschützen auf sie angesetzt zu haben. Diesem Verdacht folgten umfassende Ermittlungen und insgesamt sieben Gerichtsurteile von drei verschiedenen Gerichten, die sich zum Teil fundamental widersprachen. Es ging um zwielichtige Gestalten aus dem Rotlichtmilieu, um internationale Drogengeschäfte, um Erbstreitigkeiten, um fragwürdige Ermittlungsmethoden der Polizei, sensationelle DNA-Funde, widersprüchliche Zeugenaussagen, unverhofft auf- und abtauchende ZeugenInnen, auffällige Staatsanwälte und durch Medien irritierte Richter; alles dokumentiert auf tausenden Seiten in Ermittlungsakten und in über 600 Medienberichten über neun Jahre hinweg. Und die Medien beschränkten sich nicht auf simple Ereignis-Berichterstattung; sie recherchierten selbst, zogen externe ExpertInnen bei, verfolgten neue Spuren, entwarfen alternative Thesen zu den vor Gericht diskutierten Tatversionen und irritierten dabei immer wieder die Strafverfolgungsbehörden. Es war also auch der Umfang des Untersuchungsgegenstands, der uns ahnen liess, dass wir uns eine Herkulesaufgabe aufgebürdet hatten.
Widersprüchliche Aussagen und unglaubwürdige Schilderungen
Über Monate hinweg nahmen wir gemeinsam mit Filip Dingerkus, Mirco Saner und Nadja del Fabro als IAM-Forschungsteam in einer akribischen Inhaltsanalyse die ausufernde Berichterstattung unter die Lupe. Wir sprachen aber auch mit den wichtigsten ProzessakteurInnen, den berichtenden JournalistInnen und weiteren ExpertInnen, die uns auf juristische und andere Zusammenhänge aufmerksam machten. In diesen Gesprächen wurde uns eines immer klarer: Mit unserem Gutachten würden wir nie belegen können, welche Medien der Wahrheit am nächsten gekommen waren, auch weil wir nie herausfinden konnten, was sich in dieser Novembernacht 2010 in Erstfeld und in den anschliessenden Ermittlungen genau abgespielt hatte. Zu widersprüchlich waren die Aussagen, die uns gegenüber gemacht wurden, zu unglaublich waren die Darstellungen, die uns in den diversen Gesprächen präsentiert wurden. Wir konnten jedoch gemäss unserem Auftrag die Arbeit der Medien aus medienwissenschaftlicher und -ethischer Sicht untersuchen und erklären, sowie Handlungen von JournalistInnen und Prozessbeteiligten interpretieren und problematisieren. Wir erkannten, wie das Aufeinanderprallen der juristischen und der journalistischen Logik zwangsläufig zu Kommunikationsproblemen führen musste.
Zu Besuch im Gefängnis
Die Studie „Rolle der Medien im Fall Ignaz Walker“ war für uns mit der Präsentation des Gutachtens vor einer parlamentarischen Kommission des Kantons Uri und an einer Medienkonferenz bereits Anfang Juli 2019 abgeschlossen, das Thema beschäftigte uns auf einer menschlichen Ebene aber weiter. Eine zentrale Figur hatten wir dabei bis nach Abgabe des Gutachtens nicht befragt: den Hauptakteur selbst, Ignaz Walker. Denn es ging in der Studie nicht primär um seine Person oder seine Sichtweise zum Fall, sondern um die kritische Beurteilung der medialen Berichterstattung. Nachdem wir uns aber über Monate hinweg mit Entwicklungen um diese Person befasst hatten, kam bei uns zunehmend der Wunsch auf, diesem Menschen auch noch direkt zu begegnen. Deshalb waren wir froh, dass unser Besuchsantrag schliesslich genehmigt wurde und wir die Chance hatten, Walker persönlich kennenzulernen. Das intensive Gespräch mit ihm in der kühlen Besucherschleuse zeigte uns dann auch, dass wir es ihm schuldig waren, seine Sicht der Dinge anzuhören. Der Besuch war zwar beschränkt auf eine Stunde, in der es aber keinen ruhigen Moment gab. Und das Gespräch lehrte uns: Auch nach monatelanger, intensiver Beschäftigung mit dem äusserst komplexen Fall Ignaz Walker wissen wir noch lange nicht alles – im Gespräch erfuhren wir zusätzliche, neue Aspekte und erkannten wieder neue Zusammenhänge.
Der Fall Ignaz Walker wird uns – und wohl nicht nur uns – noch länger nicht loslassen. Für Walker steht die Frage der vorzeitigen Haftentlassung im Raum. Der Weg dazu ist, wie es sich für diesen Fall fast schon gehört, komplex. Gleichzeitig hat Walker die Zeit hinter Gittern genutzt, um seine Version des Falles in Buchform zu beschreiben. Und es ist damit zu rechnen, dass nicht nur wir wieder neue Dinge aus diesem Buch erfahren werden, wenn es dann fertig geschrieben ist.
(Copyright Beitrags-Bilder: Keystone/Urs Flüeler)