Es war immer Samstagvormittags. Wir sind mit dem Auto hingefahren. Meist waren alle Parkplätze besetzt, so dass die Eltern einige Runden drehen mussten, bis sie einparken konnten. Im Laden ging es dann immer zuerst zum Brot, dann zum Gemüse, schliesslich zu den Nudeln und am Ende kam die Fleischtheke. Da gab‘s dann ein „Wursträdli“. Und wir waren zufrieden. Einkaufen war für „Migros-Kinder“ ein prägendes Kindheitserlebnis. Was früher ein Abenteuerausflug war, empfinden wir heute als stressig: Der Verkehr, die Menschenmassen, die quengelnden Kinder. Lieber kurz und schmerzlos einkaufen lautet deshalb die Devise – und wir lassen den eigenen Nachwuchs zu Hause oder shoppen online. Das stellt den Detailhändler vor ein Problem: Wie sollen Kinder heute eine nachhaltige Bindung zur Ladenkette aufbauen können, um sich später der nächsten M-Kunden-Generation zugehörig zu fühlen?
von Prof. Dr. Nicole Rosenberger und Nadine Klopfenstein, Forschungsteam Organisationskommunikation und Management am IAM.
Die Migros lässt sich dazu so einiges einfallen. So sind die Sammelaktionen (von Nanomania über Stickermania zu Farmmania), die Migros seit Jahren für unseren Nachwuchs durchführt, nichts anderes als ein Versuch, sich in der kindlichen Gedankenwelt einen fixen Platz zu ergattern. Der pädagogische Wert der zu sammelnden Objekte ist dabei allerdings sehr unterschiedlich. Nun scheint Migros im Werben um die Gunst der Kinder mit der neuen Spiel-Aktion „Mini-Migros“ noch einen Schritt weiter zu gehen. Mit der Miniatur-Ausgabe einer Migros-Filiale tourt der orange Riese derzeit durch Schweizer Einkaufszentren und bietet Kindern einen riesigen „Verkäuferli-Laden“.
Die Kinder können darin wie im echten Geschäft einkaufen, in verschiedene Rollen schlüpfen und die Abläufe des Detailhändlers vom Regaleinräumen bis zur Entsorgung spielerisch kennenlernen. Damit verwandelt die „Mini-Migros“ nicht nur eine gewöhnliche Verkaufsfläche in einen Spielplatz und will Eltern anlocken, sondern bietet den Kindern Raum, im fiktiven Spiel das Einkaufsverhalten der Erwachsenen nachzuahmen. Das Modell vermittelt das Funktionieren eines modernen Ladens und bringt den Kunden in spe gleichzeitig – quasi als Nebenprodukt – die Migros-Identität näher. Dies hat aus kommunikativer Sicht eine doppelte Wirkung: Zum einen lernen die Kinder im Spiel, was für Migros typisch ist. Zum andern verschmelzen Migros-Welt und persönliche Welt der Kinder miteinander. Dies schafft Nähe und Vertrautheit.
Aus unserer Forschung im Bereich Organisationskommunikation und Management am IAM wissen wir, dass Nähe und Vertrautheit wichtige Voraussetzungen für Vertrauensbildung sind. Und Vertrauen wiederum ist die Basis für eine stabile Kundenbindung. Vertrauen setzt aber auch voraus, dass Stakeholder eine eindeutige Vorstellung von einem Unternehmen entwickeln können. Dazu braucht es eine klar differenzierende Unternehmensidentität und eine Kommunikation, die diese anschaulich vermittelt.
Beides gelingt der Migros. So pflegt der orange Riese seit seiner Gründung eine spezifische und konsistente Identität. Kern dieser Identität ist der Bezug des Unternehmens zur Lebenswelt der Konsumentinnen und Konsumenten. Aus diesem Grund engagiert sich die Migros nicht nur für unternehmensrelevante Themen, sondern versucht auch den Alltagsbedürfnissen der Kunden Rechnung zu tragen. Sei dies durch die Förderung eines nachhaltigen Umgangs mit der Umwelt (Generation M) oder die Pflege von Gemeinschaft und Kultur (Kulturprozent). Diese Strategie der Migros, sich in der Gesellschaft zu verankern, zeigt sich auch in der Unternehmenskommunikation, die Alltagsthemen aufnimmt (Migros-Magazin) und den Konsumenten eine Plattform zur Verfügung stellt, um sich über Migros auszutauschen (Migipedia). Dabei wird immer wieder auf andere Weise die gleiche Corporate Story erzählt: Die Migros baut Brücken, ursprünglich vom Produzenten zum Konsumenten, heute vom Unternehmen zur Lebenswelt der Konsumenten.
Die Brücke zu einer neuen Generation von „Migros-Kindern“ baut der orange Riese strategisch geschickt mit dem Einrichten von Spiel-Filialen. Dabei muss er sich auch der Kritik aussetzen, das freie Spiel von Kindern womöglich für seine eigenen Unternehmensziele zu missbrauchen und den Konsumenten-Nachwuchs mit zweifelhaften Mitteln zu akquirieren. Kommunikationsstrategisch betrachtet ist die Marketing-Aktion effektiv. Denn während die Kinder einfach „Verkäuferlis“ spielen und so das Verhalten ihrer Eltern imitieren, verknüpfen sie ihre positiven Eindrücke mit dem Detailhändler. Und aus der „Mini-Migros“ wird wieder „mini Migros“ – meine Migros.
Buchtipp zum Thema
Interesse daran, mehr über das Zusammenwirken von Identität, strategischem Public Storytelling und Vertrauen in der Unternehmenskommunikation zu erfahren? Die aktualisierte und erweiterte Auflage des bewährten Fachbuches „Unternehmenspolitik, Identität und Kommunikation – Modell, Prozesse, Fallbeispiele“ von Prof. Dr. Nicole Rosenberger und Markus Niederhäuser erscheint demnächst.
Weiterführende Links
- Mini-Migros – der grösste Verkäuferliladen der Schweiz
- Mit Geschichten Identität prägen und Vertrauen fördern, Blogbeitrag vom 12. Mai 2014
Bisschen mehr Kritik am Vorgehen der Migros wäre wünschenswert gewesen. Ethisch und moralisch ist die Aktion nicht vertretbar – noch weniger als die Plüschhasen, Mania-Dinger oder sonstwas.
Ich kann nur hoffen, das Lehren und Lernen an der ZHAW mehr auf kritisches Denken und Hinterfragen ausgerichtet ist.
Dass Unternehmen um Kinder als zukünftige Kunden buhlen, ist eine Tatsache, die durchaus kritisch zu betrachten ist, was im Blogtext auch angesprochen wird.
Der Beitrag konzentriert sich auf die Freilegung grundsätzlicher Mechanismen, mit denen Wirkung erzeugt werden soll. Nur Konsumenten oder Studierende, die diese Mechanismen durchschauen, sind in der Lage, sie einer kritischen Bewertung zu unterziehen. Es liegt nahe, dass für eine solche Bewertung dann auch ethische Kriterien herangezogen werden.
Wenn Du in den Zolli Bolli gehst und einen Verkäuferli-Laden aus Holz kaufst, dann kaufst Du mit dem Laden in den allermeisten Fällen Produkte von Nestlé und Unilever mit. Ich finde Migros Artikel netter als solche von den beiden genannten. Es ist ein den Kindern ureigenes Spiel, der Handel, wie die Pflege (Tökterle) oder Familie spielen (Vätterli und Müetterlis). Also, wir stülpen den Kindern hier etwas über, was sie gar n icht interessiert. Jede, die sich über die Mini Migros aufregt, müsste aber dann konsequent sein und mit den eigenen Kindern nicht in die Migros posten gehen. Denn da lernen sie genau so, wie beim selber spielen in der Mini Migros. Oder?