Als ich Ende August 2015 nach Wien kam, habe nicht ich einen Kulturschock erlebt, sondern Wien. Denn etwa zeitgleich mit mir kamen zehntausende Flüchtlinge unter anderem aus Syrien, Afghanistan und Irak in der österreichischen Hauptstadt an.
von Anna Luna, Bachelorstudentin am IAM (JO13)
Der Westbahnhof war Anfang September, während meiner ersten Wochen in dieser neuen Stadt ein Ort des Chaos, der Verzweiflung, der Überforderung, aber auch der unfassbar grossen Hilfsbereitschaft. Der Westbahnhof war zehn Gehminuten oder zwei U-Bahn-Stationen von meiner neuen Wohnung, meinem neuen Zuhause entfernt. Und ich, die immer überzeugt war, aufgrund der Medienberichterstattung total verstanden zu haben, worum es da geht, den Ernst und das Ausmass der Situation begriffen zu haben, und die Tragödie all dieser einzelnen Menschen auf der Flucht nachvollziehen zu können, wurde eines Besseren belehrt.
Bereits in den ersten Tagen lernte ich einen Studenten kennen, der nebenbei als freier Fotograf arbeitet, und begleitete ihn für eine Fotoreportage zum Westbahnhof. Ich, die meinen ignoranten Mitmenschen immer gepredigt hatte, dass es Menschen wie du und ich sind, die da kommen, dass diese Menschen Hilfe brauchen, dass diese Menschen nichts haben, ausser die Hoffnung in uns, erwischte mich dabei, die Bedeutung all dieser Worte erst jetzt in vollem Umfang verstanden zu haben.
Ich war anfangs gelähmt und kam mit der Situation nicht klar, einen Kilometer neben tausenden hungernden und frierenden Flüchtlingen in meinem warmen Bett zu schlafen. Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff, dass es überhaupt keinen Unterschied machte, wie weit entfernt von ihnen ich mein sorgloses Leben führte, denn sie waren so oder so da. Als ich aus meiner Ohnmacht erwachte, meldete ich mich bei der Caritas an und konnte so ein paar Mal die Woche meinen kleinen Beitrag leisten und lernte einige Flüchtlinge etwas näher kennen, soweit es die Sprachbarriere zuliess. Ich fühlte mich dadurch nicht besser. Doch wenn ich schon da war, und wenn schon nicht mehr möglich war, musste ich wenigstens ein winzig kleiner Teil dieser riesigen hilfsbereiten Bewegung sein, die Wien und Europa in dieser Zeit so stark prägte.
Das Auslandsemester in Wien war grossartig. Ich habe getanzt, gefeiert, gelacht, gut gegessen, wunderschöne Orte entdeckt und tolle Menschen kennengelernt. Ich habe aber auch gelernt, dass ich vorher nicht wirklich ganz gewusst, oder besser, nicht wirklich ganz nachfühlen konnte, wovon ich geredet hatte. Denn keine Statistik, kein Artikel und keine Reportage vermittelt dass Ausmass der Tragödie so wie der Blick in die traurigen und doch hoffnungsvollen Augen der einzelnen betroffenen Menschen. Und obwohl ich der Überzeugung bin, dass empathische Menschen solche hautnahen Erlebnisse nicht brauchen, um sich für Menschen in Not stark zu machen, bin ich dankbar für diese prägende Erfahrung, die immer ein Teil meiner durch und durch grossartigen und unvergesslichen Zeit in Wien bleiben wird.