Von Kutschenfahrten, dem Würdigen des Andersseins und dem ultimativen Muskelkater


Wenn die Metro zur Kutsche wird, man die Koffer aber trotzdem selber schleppen muss, dann…

… ist man eine Studentin am Anfang ihres Austauschsemesters in Paris. Vieles nimmt Anouk Arbenz von ihrem Aufenthalt in der Hauptstadt mit. Am stärksten beeindruckt zeigt sie sich aber von der gelebten Fraternité – den Reaktionen auf den Terroranschlag auf Charlie Hebdo. Was mit „Je suis Charlie“, dem Slogan, der nach dem Anschlag um die Welt ging, gemeint ist, erlebte sie als Teilnehmerin am Gedenkmarsch vom 11. Januar hautnah.

Wenn ich mich zurückerinnere an den Tag meiner Anreise, denke ich als erstes daran, wie ich mit meinen zwei Koffern und dem Rucksack in der rüttelnden Metro Nummer 11 (oder auch: braune Linie) sitze und trotz der einsetzenden Müdigkeit alles um mich herum mit grosser Neugier aufsauge, wie ein trockener Schwamm das Wasser. Ein fremder Schwamm, der ins eiskalte Wasser geworfen wird. Als ich schliesslich kurz die Augen schliesse, muss ich schmunzeln. Das Rütteln und Schütteln dieser alten klapprigen Metallröhre erinnert mich merkwürdigerweise an eine Kutschenfahrt. Ganz plötzlich rieche ich den Gestank nicht mehr, fühle mich nicht mehr bedrängt in der vollen Metro, sondern sehe mich vor meinem inneren Auge in einer edlen Kutsche vor dem Eiffelturm vorfahren. Endlich bin ich in Paris!

Am nächsten Tag erleide ich den Muskelkater meines Lebens und schwöre mir, meinen alten, unstabilen Koffer noch vor meiner Rückreise gegen einen neuen, praktischeren auszutauschen. Der Muskelkater ist jedoch schnell vergessen, als ich die Schönheit und Vielfalt dieser Stadt entdecke. Selbstverständlich besuche ich das Montmartre mit dem Sacré-Coeur, den Eiffelturm, die Place des Vosges, die Rue des Rosiers, die Place de l’Hôtel de Ville, die Nôtre-Dame, das Quartier Latin und so weiter und so fort. Noch mehr aber sehe ich, wie es in Paris abseits der Touristenattraktionen zu und her geht. Ich lebe im Quartier Belleville, ein immer jünger werdendes Quartier, das früher besonders von afrikanischen und muslimischen Immigranten bewohnt war. Das macht es, wie ganz Paris, multikulturell und sehr sympathisch.

Nach meiner Rückkehr fragt man mich oft: Wie sind die Pariser so?
Was mir als Erstes aufgefallen ist: In Paris gibt es keine Schicht, Altersklasse, Religionsangehörigkeit, Ethnie, Gruppe, die es nicht gibt. Jeder ist, wie er ist, und jeder wird akzeptiert, wie er ist, sofern auch er Anderem gegenüber tolerant ist.

Freiheit ist den Parisern sehr wichtig. Sei es, wenn es um die Art und Weise geht, wie sie sich anziehen, wie sie sich darstellen, oder aber wenn es um Meinungen, Ansichten oder die Lebensweise anderer Leute geht. Die Reaktionen auf den Terrorangriff auf Charlie Hebdo haben deutlich gezeigt, wie wichtig den Franzosen Werte wie Meinungs- und Glaubensfreiheit sind.

Da ich bis Ende Januar 2015 in Paris geblieben bin, habe ich am 7. Januar auch den Terrorangriff auf die Satirezeitung Charlie Hebdo mitbekommen. Vier Tage später fand im Gedenken an die Opfer des Angriffes ein Gedenkmarsch in Paris statt. 1,6 Millionen Menschen waren dort. Ich auch. Das Gefühl, ein Teil dieser Bewegung zu sein, welche sich für die Meinungsfreiheit und gegen den Terrorismus einsetzt, war unglaublich. Ich stand da mit diesen Millionen anderer Menschen, und ich glaube, viele haben die “fraternité“ noch nie so stark gespürt wie an diesem Tag. Man sah nichts und konnte sich wegen der Menschenmassen kaum bewegen, doch wir waren alle aus demselben Grund da und waren Brüder und Schwestern für einen Tag. Diese Atmosphäre, diese Energie und der Wille, für das, was man für richtig hält, zu kämpfen und einzustehen, werde ich nie vergessen.

Was macht Paris noch aus?
Bücher. Ich habe noch nie so viele Menschen lesen gesehen wie in der Pariser Metro. Und sie haben nicht irgendwas gelesen – keine 20 Minuten, nein, richtige Romane! Praktisch jeder Dritte sass oder stand da mit einem Buch in der Hand, tief versunken, ohne je aufzublicken, ohne sich von dem Rütteln der Bahn oder dem Platzmangel ablenken zu lassen.

(Un-)Pünktlichkeit. Die Franzosen kamen mir eher unpünktlich, ziemlich chaotisch und unorganisiert vor. Und sie mögen es nicht, früh aufzustehen. Und tun es auch nicht: Stosszeiten sind 9 Uhr morgens und 7 Uhr abends. Die Unpünktlichkeit der Franzosen bekam ich vor allem in der Universität zu spüren, wenn Studierende und Professoren manchmal bis zu 20 Minuten zu spät kamen.

Hektik. Obwohl ich jemand bin, die generell etwas schnellere Schritte macht als andere und oft überholen muss, habe auch ich in Paris eine allgemeine Hektik gespürt. Nicht unbedingt weil die Menschen gestresst sind, sondern einfach, weil die Stadt einem Rhythmus folgt, der eher zackig ist – man lebt, ohne zurückzublicken. Obwohl es bestimmt nicht jedermanns Sache ist, mag ich diesen schnellen Rhythmus von Paris und kann mir daher auch gut vorstellen, wieder zurückzukehren.

Anouk Arbenz‘ Post ist einer von sechs prämierten Studierendenbeiträgen zum Auslandsemester. Die Verfasserin steht kurz vor ihrem Bachelorabschluss in Angewandten Sprachen und hat wie viele ihrer Mitstudierenden das fünfte Semester im Ausland verbracht. Näheres zum Auslandsemester lesen Sie hier.


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