Dank einer Projektarbeit nach Rumänien: Eva Seiterle und Elise Schorscher, zwei Studentinnen aus dem dritten Semester des Bachelorstudiengangs Angewandte Sprachen, haben im Mai 2014 ihre Arbeit an einer internationalen studentischen Tagung in Hermannstadt (Sibiu) vorgestellt. Das Schreibprojekt ging in mehreren Texten Orten nach, wo man fremden Sprachen und Kulturen in und um Zürich begegnen kann – vom spanischen Kulturverein bis zum australischen Pub. In ihrem Bericht erzählen sie von Hermannstadt, von der Tagung – und von den kulinarischen Freuden.
Das Flugzeug rattert, die Fenster sind weiss angehaucht. Wir befinden uns mitten in den Wolken, hoch über den Karpaten. Die Stimmen rund um uns orchestrieren ein Gemisch aus Deutsch und einer Fremdsprache, die wir nicht verstehen. Ob die Menschen – wie wir – zu Besuch in das Land unserer Destination fliegen oder ob sie zurückkehren in ihre Heimat? Ein kleines Mädchen mit braunen Haaren ruft aufgeregt: „Mama, case!“ Nicht nötig, das Wort aus dem Spanischen „casa“ abzuleiten, denn nun sehen auch wir es: unter uns die Häuser von Hermannstadt in Siebenbürgen, Rumänien.
Wir sind für eine Tagung unterwegs: Die Lucian Blaga Universität feiert heute ihr 45. Jubiläum. Zu diesem Anlass reisen Studierende aus ganz Europa an, um zu dem Thema „Research and Education for a Knowledge-Based Society“ in den nächsten drei Tagen Referate zu halten. Dank der tatkräftigen Unterstützung unseres Dozenten, Prof. Dr. Joachim Hoefele, sind auch wir dabei.
Am Flughafen werden wir Schweizer Studentinnen abgeholt und zu unserer Unterkunft in die Evangelische Akademie gebracht. Wir laden unser Gepäck ab und machen uns sofort auf den Weg in die Stadt. Orange, blau, grün – eine Vielfalt von Farben schmückt die Häuser von Hermannstadt (Rumänisch: Sibiu). So verschieden sie sind, passen sie doch zusammen. In der Tasche den Spickzettel für den Vortrag, den wir am späteren Nachmittag noch brauchen werden. Wir verlassen das Taxi beim Grossen Ring. Es ist 12.45 Uhr und in der Stadt herrscht Hochbetrieb. Wir sind daher nicht die Einzigen, die sich hungrig in die Schlange an der Bäckereitheke mit gelber Aufschrift „Brutărie“ anstellen. Die mit Kraut gefüllten Teigtaschen im Schaufenster sehen verlockend aus, obwohl wir auf der Suche nach etwas Süssem sind. Ein älteres Paar bemerkt unsere Unsicherheit: „Very good“. Als der Mann mit der Hand über seinen Bauch fährt, können wir nicht mehr anders, als uns den Nachtisch schon vor dem Mittagessen zu gönnen. Hinter uns ertönt das Lied „Don’t worry, be happy“. Zwei junge Männer bereichern die Atmosphäre auf dem Platz mit ihrer Strassenmusik aus Gesang, Gitarren- und Panflötenmelodien. Als sich unsere Blicke kreuzen, fordern sie uns auf, mitzusingen. Ein Stein beschwert die Geldscheine im Hut, um sie daran zu hindern davonzufliegen. Die Musiker stammen von ausserhalb der Stadt, genau genommen aus Bukarest. Sie sind hier, weil es in Hermannstadt mehr Tourismus gebe. Doch davon merken wir nicht viel. Die Stadt ist authentisch.
Es gibt so viel zu entdecken, jede Seitenstrasse führt uns wieder an einen neuen, schönen, traditionsbeladenen Ort. Die wunderbaren Plätze mit guten Restaurants an jeder Ecke, ein Bücherladen, in dem wir stundenlang verweilen könnten, und die Aussicht vom etwas höher gelegenen Quartier raubt uns regelrecht die Zeit, so dass wir prompt die Begrüssung, den ersten Programmpunkt der studentischen Tagung, zu der wir eingeladen sind, verpassen. Die Vorträge, die danach folgen, sprechen ganz unterschiedliche Themen an: von Semesterarbeiten über Klassiker unter den deutschsprachigen Romanen von Goethe und Hermann Hesse bis zu politischen Aktualitäten in Rumänien. Nach jedem Vortrag werden Fragen gestellt, aus denen interessante Diskussionen entstehen. So bekommen wir die unbezahlbare Gelegenheit, mit gleichaltrigen Studierenden aus ganz unterschiedlichen Ländern Erfahrungen auszutauschen und gewinnen so einen unverfälschten Eindruck über deren Herkunftskulturen und Lebensweisen. Unter anderem über die Universitätssysteme, aber auch über kulturelle Bräuche sowie kulinarische Spezialitäten der Länder. Die rumänischen müssen wir nicht nur erzählt bekommen, sondern dürfen sie auch selbst gleich kosten. Die Lucian Blaga Universität hat zu dem Anlass am Abend ein riesiges Buffet mit unzähligen Köstlichkeiten für uns organisiert. Fisch, Fleischklösschen, Käseplatten, Gemüsedips und Salate werden uns feierlich aufgetischt. Der Festschmaus geht bis lange in die Nacht hinein. Am internationalen Tisch sitzen wir Gäste mit Studierenden aus Hermannstadt zusammen. Es wird diskutiert, gelacht, getrunken und gegessen. Um Mitternacht setzen wir unsere Gespräche in einer Bar fort. Nicht mehr allzu lange, denn der nächste Tag wird noch viel Neues bringen.
Am nächsten Morgen in der Früh werden wir, noch bevor unser Wecker losgeht, vom Krähen eines Hahns geweckt. Heute stehen weitere Vorträge auf dem Programm. Einer davon handelt von Heimat und was diese bedeutet. Angesprochen wird unter anderem das Schicksal vieler Siebenbürger Sachsen, die nach dem Sturz Ceaușescus fluchtartig das Land verliessen und heute mit ihren Familien in Deutschland, Österreich oder in der Schweiz wohnen. Der Verlust ihrer alten Heimat ist nach all den Jahren noch immer schmerzhaft und verhindert ein vollständiges Ankommen im neuen Land. Wo ist Heimat zu finden? Wird es je einen Ort auf der Welt geben, den man als solche bezeichnen kann? Wann sind wir dort angekommen? Ein berührender Vortrag, in den wir uns gut einfühlen können. Dann gibt es eine Kaffeepause und danach steht eine Stadtführung durch Hermannstadt/Sibiu auf dem Programm. Auf die freuen wir uns schon ganz besonders.
Marius, der Stadtführer und frühere Student der Lucian Blaga Universität, ist uns auf Anhieb sympathisch. Mit seiner lockeren, fröhlichen Art zieht er uns alle sofort in den Bann. Zu Fuss gehen wir zum Grossen Ring, dem Stadtzentrum. Vor vielen Jahren, genau genommen 1191, hatte Papst Cölestin den Erhalt der Kirchensteuer für Vila Hermani bestätigt, so beginnt er uns die Geschichte von Hermannstadt zu erzählen.
Die Dächer am Grossen Ring mit ihren Dachgaupen, die von oben wie Augen zu uns herabzublicken scheinen, dürften wohl kaum einem Besucher entgehen. Marius erzählt uns von den zahlreichen Belagerungen durch die Türken. Hermannstadt sei die einzige mittelalterliche Festung, die nie von den Türken erobert wurde. Unterdessen sind wir bei der Stadtmauer angekommen. Vieles hier erinnert noch an die Zeit der Handwerkszünfte (wie die der Maurer, der Schneider, der Tischler usw.), die damals einen eigenen Wehrturm hatten. Dort bewahrten sie die Waffen für die Verteidigung der Stadt auf. Das Taufbecken in der Stadtpfarrkirche ist aus einer jener Kanonen geschmiedet worden, welche die Türken zurückgelassen hatten, nachdem sie die Stadt nicht hatten erobern können. An der Wand der Kirche hängt eine Kugel mit dem Durchmesser von ungefähr 70 Millimetern, die damals durch das Kirchendach eingedrungen war. Marius macht uns auf die verschiedenen Baustile aufmerksam und erzählt uns von den zahlreichen Kulturen, die diesen Ort in den letzten Hunderten von Jahren bereichert haben. 2007 war Hermannstadt zusammen mit Luxemburg Europäische Kulturhauptstadt.
Wir gehen über den Kleinen Ring und können nun endlich die berühmt-berüchtigte „Lügenbrücke“ sehen, die diesen mit dem Huet Platz verbindet. Der Sage nach wird, wer ein Lügner ist und diese Brücke betritt, von ihr nicht getragen. Viele Erwachsene können sich noch heute daran erinnern, wie sie als Kinder diese Brücke mieden und dafür Umwege in Kauf nahmen – aus Angst, sie könnte einstürzen.
Es ist bereits Nachmittag, als die Flugzeugmotoren aufheulen. Aus den Fenstern können wir noch die farbigen Häuser vorbeiziehen sehen, bis diese schliesslich durch die weissen Wolken verschwinden. Die zwei Stunden Flugreise bieten Gelegenheit, unsere Erlebnisse in diesem wunderschönen Land nochmals Revue passieren zu lassen. Wir sind uns einig, die Stadt der vielen Sprachen und Kulturen hat es uns angetan.
Bis bald, Hermannstadt – la revedere Sibiu!