Gewohnheiten durch Viren unter Beschuss

Ein Beitrag von Linda Ryter, Studentin Bachelor Umweltingenieurwesen

Foto: www.colourbox.com

Gewohnheiten begleiten und unterstützen uns in unserem Alltag. Nun werden sie durch die Corona-Pandemie strakt eingeschränkt. Was uns einerseits zwingt und andererseits ermöglicht, neue Wege zu gehen.

Eine ungewohnte Begegnung
Welch grossen Einfluss Gewohnheiten auf unseren Alltag haben, wurde mir bewusst, als ich vor zwei Wochen eine Freundin beim Spazieren traf. Wir waren beide überfordert mit der plötzlichen Begegnung und die Begrüssung, gewöhnlich eine herzliche Umarmung, verkam zu einer komischen Abfolge von unkoordinierten Wink-Gesten und Ausflüchten darüber, wie komisch doch die ganze Situation sei. Irgendwie fanden wir trotzdem in ein Gespräch und unterhielten uns prächtig, zum Glück nicht nur über das Virus. Aber dann kam die Verabschiedung und die war wiederum verwirrend. Nach einem sehr komischen Luft-Händedruck entfernten wir uns voneinander und fühlten uns etwas verlassen und eine schöne Begegnung endete irgendwie zu abrupt.

Helfer im Alltag
Gewohnheiten sind abgesehen von paar wenigen schlechten Beispielen echte Helfer in unserem Alltag. Wie Lerncoach Katrin Piazza in ihrem Blog schreibt, nehmen Gewohnheiten uns viele Entscheidungen ab. Für unser Gehirn ist es sehr energieeffizient, wenn einige Vorgänge automatisch ablaufen und wir uns nicht über jeden Schritt eines Vorgangs Gedanken machen müssen (Piazza, 2020). Ein meiner Meinung nach sehr treffendes Bild einer Gewohnheit zeichnet Trainerin Margrit Reinhard in ihrem Blog (Reinhardt, 2019). Sie vergleicht die Gewohnheit dabei mit einer Autobahn, die es uns ermöglicht, sehr schnell und effizient an unser Ziel zu gelangen. So geben uns Gewohnheiten zum Beispiel die Chance, mit unseren Freunden ins Gespräch zu kommen, ohne dass wir immer wieder aufs Neue der unangenehmen Entscheidung ausgesetzt sind, welches nun die angemessene Begrüssungsform ist. Der Umstand, dass wir im Moment auf viele Gewohnheiten verzichten müssen, kann also eine echte Heraus-forderung sein.

Lernen auf der Überholspur
Auch das Lernen wird von Gewohnheiten gelenkt. Autobahnen sind in dieser Hinsicht, um auf den Vergleich von vorhin zurückzukommen, ziemlich essenziell für Studierende. Zu Beginn des Studiums war meine Autobahn eine Baustelle, Spuren mussten erweitert, der Belag geflickt und neue Ausfahrten gebaut werden. Zum Beispiel war die Umstellung auf papierlosen Unterricht eine Herausforderung für mich. Ich war mir seit der ersten Klasse gewohnt, meine Notizen und Gedanken mit einem Kugelschreiber auf einem Blatt Papier festzuhalten. Die Tatsache, dass man heute auf dem Bildschirm mit einem entsprechenden Stift fast wie normal schreiben kann, hat mir die Umstellung etwas erleichtert. Und mit der Zeit, als langsam nicht nur unlesbares Gekritzel auf dem Bildschirm erschien, bemerkte ich, wie praktisch es ist, wenn ich meine Notizen alle am gleichen Ort habe und nicht in die Versuchung komme, sie als Kaugummi-Abfallpapier zu verwenden.

Umbauen
Wir sind also auch in der Lage, unsere Gewohnheiten zu ändern. Vor allem, wenn äussere Umstände uns dazu zwingen. Ein Artikel der Zeit zitiert Bas Verplanken, Professor für Sozialpsychologie an der University of Bath in England, der sich mit der Erforschung von Gewohnheiten beschäftigt (Zeug, 2016). Laut Herrn Verplanken fällt es uns am einfachsten, ein Verhalten zu ändern, wenn sich der Kontext ändert. Er nennt als Beispiel eine schwere Krankheit oder eine Scheidung, so genannte «teachable moments», welche unsere Gewohnheiten zeitweise brechen. Das neue Coronavirus beschert uns gerade viele «teachable moments», indem es sehr stark in unserem Alltag eingreift. Die Sterne stünden folglich recht gut, die eigenen Gewohnheiten zu ändern.

Wo treffen wir uns?
Warum fällt es uns dann offensichtlich trotzdem so schwer? Im Online-Lexikon für Psychologie und Pädagogik wird die Gewohnheit als eine automatisch ablaufende Handlung definiert, die nicht bewusst gesteuert wird (Stangl, n.d.). Damit unser Gehirn ein solch automatisiertes Programm abspeichern kann, braucht es eine gewisse Anzahl Wiederholungen eines bestimmten Verhaltens. Eine Autobahn baut man nun mal nicht an einem Tag. In seinem Blogbeitrag erwähnt Daniel Rettig eine Studie, bei der die Probanden durchschnittlich 66 Tage benötigten, um sich eine neue Verhaltensweise anzugewöhnen (Rettig, 2010). Seit 53 Tagen, ich habe es nachgerechnet, findet kein Kontaktunterricht an der ZHAW mehr statt. Und tatsächlich habe ich mich schon so sehr an die Situation gewöhnt, dass ich «Teams» und «Zoom» in meinem Wortschatz wie geografische Orte verwende. Als wäre «Wo treffen wir uns heute?» – «Im Teams.» schon immer Teil einer normalen Unterhaltung gewesen.

Neue Wege
Wenn Gewohnheiten Autobahnen sind, dann ist das Corona-Virus gewissermassen wie ein Erdbeben. Viele Abschnitte der Autobahnen sind beschädigt, aufgerissen und gesperrt. Dies erschwert es uns, unsere Ziele zu erreichen, wir müssen den beschwerlichen Fussmarsch gehen. Es zwingt und ermöglicht uns, aus alten Gewohnheiten auszubrechen und neue Wege zu gehen. Und somit im negativen wie im positiven Sinn ganz neue Orte zu entdecken.

Literatur
Piazza, K., 2020. Gute Gewohnheiten fördern das Lernen. Katrin Piazza. URL https://katrinpiazza.ch/gute-gewohnheiten-foerdern-das-lernen/
(accessed 5.7.20).
Reinhardt, M., 2019. So verändern Sie Ihre Gewohnheiten. Margit Reinhardt – Trainerin und Coach. URL https://www.margit-reinhardt.de/so-veraendern-sie-ihre-gewohnheiten/ (accessed 5.6.20).
Rettig, D., 2010. Reine Routine – In 66 Tagen zur Gewohnheit. Alltagsforschung. URL https://www.alltagsforschung.de/reine-routine-in-66-tagen-zur-gewohnheit/ (accessed 5.6.20).
Stangl, W., n.d. Gewohnheit. URL https://lexikon.stangl.eu/6140/gewohnheit/
(accessed 5.6.20).
Zeug, K., 2016. Psychologie: Neue Gewohnheiten zu etablieren ist einfacher, als alte abzulegen. Die Zeit.


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