Beitrag von Beatrice Dätwyler
Schreibkompetenzen fördern bedeutet, Studierende während des Schreibprozesses individuell durch Feedback zu begleiten, Heterogenität zu erwarten und nicht auf das perfekte Endprodukt zu fokussieren.
“Meine Arbeit ist zu wenig wissenschaftlich formuliert”
Der Student sitzt etwas ratlos vor mir und versucht meine Frage zu beantworten. Es ist sein erster Termin in der Schreibberatung. Seine letzte Semesterarbeit sei zu romanartig, zu wenig wissenschaftlich, so das Feedback des betreuenden Dozenten. Ich möchte von ihm wissen, was der Dozent mit diesem Feedback wohl genau gemeint hat. Der Student setzt zu einer Erklärung an, bricht mitten im Satz ab und meint, dass er eigentlich keine Ahnung hat, was der Dozent gemeint hat. Gemeinsam schauen wir uns ein paar Textauszüge an. Ich lasse mir bestimmte Absätze erklären, frage ihn nach der Intention einzelner Passagen und ob die Information an dieser Stelle relevant sei. Durch das Sprechen über den Text beginnt der Student zu reflektieren. Er erzählt mir, wie er beim Schreiben vorgegangen ist, welchen Herausforderungen er dabei begegnet ist und was ihm leichtgefallen ist. Am Ende der Stunde wissen wir mehr, wie wir seine Schreibkompetenz stärken können und besprechen das weitere Vorgehen. Der Student wirkt erleichtert, dass er den Schritt in die Schreibberatung gemacht hat, weil er in diesem Rahmen Ruhe und Zeit findet, all seine Fragen rund ums Schreiben stellen zu können, für die im dichten Studienalltag oft kein Raum bleibt.
Personalisiertes Lernen in der Schreibberatung
Die Schreibberatung ermöglicht personalisiertes Lernen (vgl. Personalisiertes Lernen). In meinen Schreibberatungen folge ich dem Ansatz der Prozessberatung. Ich unterstütze die Studierenden u.a. durch konstruktives, wertschätzendes, aber auch ehrliches und kritisches Feedback. Ich möchte, dass sie so ihre Ressourcen erkennen und ihre Schreibkompetenzen stärken. Ich biete also Hilfe zur Selbsthilfe. Dazu gibt es keine vorgefertigten Lösungswege.
Wichtig ist mir, dass die Studierenden im Rahmen der Schreibberatung die Möglichkeit erhalten, beim Schreiben zum Beispiel die Perspektiven zu wechseln, unterschiedliche Schreibstrategien oder Formulierungen auszuprobieren und damit Verantwortung für ihre eigenen Lernprozesse übernehmen. Das bedeutet auch, dass am Ende einer Beratung nicht unbedingt der “perfekte” Text steht und somit die gute Note winkt, sondern dass die Studierenden an Vertrauen gewonnen haben, Neues auszuprobieren wagen und ihr Schreiben reflektieren können. Im Zentrum der Schreibberatung stehen also der Schreibprozess der Studierenden und die Entwicklung ihrer Schreibkompetenz.
«Ich bin viele» – Rollenvielfalt von Lehrenden
Als Schreibberaterin fühle ich mich privilegiert. Ich berate in Einzelgesprächen Studierende, die motiviert und freiwillig zu mir in die Beratung kommen. Pro Arbeit können die Studentinnen und Studenten maximal fünf Termine buchen. Wer bereits anfangs Studium den Schritt in die Beratung gemacht hat, kommt meist wieder. Teilweise kann ich so die Entwicklung der Studierenden über mehrere Arbeiten mitverfolgen. Ich sehe, wie sich ihre Schreibkompetenzen verbessern und freue mich für sie, wenn sie am Ende mit dem Ergebnis ihrer Bachelorthesis zufrieden sind.
In dieser Rolle kann ich mich bewusst davon abgrenzen, Texte beurteilen bzw. benoten zu müssen. Das ist ein Vorteil. So entsteht ein Austausch zwischen mir und den Studierenden. Nicht selten erzählen sie mir ihre ganze «Schreibgeschichte», von der Primarschule bis heute.
Ich kenne aber auch die andere Rolle (Thomann & Pawelleck, 2013, S.30). Die Rolle der Dozentin, die eine Arbeit beurteilen und benoten muss. Ich bewerte zwei Aspekte: das wissenschaftliche Schreiben und die fachlichen Kompetenzen bei der Umsetzung einer sozialwissenschaftlichen Fragestellung. Wobei beide Aspekte sich gegenseitig bedingen. Die Erstsemestrigen belegen bei mir den Kurs «Soziale Ungleichheit und soziale Gerechtigkeit in der Schweiz». Im Rahmen dieses Kurses vermittle ich ihnen ausserdem die Grundlagen des wissenschaftlichen Schreibens. Diesen Kurs führe ich in drei Gruppen à ca. 25 Studierenden durch. Am Ende des Kurses müssen die Studentinnen und Studenten eine schriftliche Arbeit abgeben.
In dieser Rolle sind andere Strategien bei der Betreuung der Studierenden gefragt als in der Einzelberatung. Meistens fehlt mir die Zeit für eine personalisierte Begleitung, obwohl ich das wünschenswert fände. Schliesslich muss ich jeweils rund 40 Arbeiten beurteilen und leider stehen mir dazu nur wenige Ressourcen zur Verfügung. Ich vermute, Sie kennen dieses Dilemma auch.
“Ist es also unmöglich, den Schreibprozess der Studierenden mittels Feedback zu begleiten?”
Die Studierenden sollen ihre Ressourcen erkennen, ihre Kompetenzen stärken und Verantwortung für ihre Lernprozesse übernehmen können. Darin möchte ich sie sowohl als Dozentin wie auch als Schreibberaterin begleiten. Als Dozentin ertappe ich mich allerdings hin und wieder dabei, dass ich beim Korrigieren denke: “Aber das habe ich doch erklärt, darauf habe ich doch ein Feedback gegeben! ” In diesen Momenten vergesse auch ich, dass der Schreibprozess im Vordergrund steht und nicht der fertige Text.
Erst die schriftliche Auseinandersetzung mit einem Thema führt zu kritischem Denken
Damit mir dennoch annähernd eine Prozessbegleitung gelingt, lasse ich die Studierenden Zwischentexte schreiben. Insbesondere eine umfassende Disposition ist mir wichtig. Anhand der Disposition kann, wenn ich die Arbeiten am Ende des Kurses korrigiere, Kompetenzentwicklungen der Studierenden beim wissenschaftlichen Schreiben einschätzen. Dabei zeigt sich auch die Vielfalt der Schreibkompetenzen der Studierenden. Schreibförderung braucht bis zu einem gewissen Grad immer individuelle Betreuung.
Auf die Disposition gebe ich den Studierenden ein detailliertes Feedback. Wie in der Schreibberatung thematisiere ich an konkreten Textstellen Herausforderungen des wissenschaftlichen Schreibens. Das Feedback erfolgt schriftlich und wird mündlich vertieft. Mit den Studierenden über das Schreiben zu sprechen, zeigt mir, was sie sich unter wissenschaftlichem Arbeiten und Schreiben vorstellen. Oft denken sie nämlich, dass Schreiben eine Frage von Begabung ist oder etwas, was am Schluss noch gemacht werden muss quasi als Verschriftlichung dessen, was eigentlich wissenschaftliches Arbeiten ist. Diese Vorstellungen beeinflussen die Entwicklung der Schreibkompetenz. Konzepte übers wissenschaftliche Schreiben bleiben diffus, wenn ich als Dozentin den Studierenden kein Feedback an konkreten Textstellen gebe und nicht mit ihnen übers Schreiben spreche.
Wichtig ist, dass Denk- und Schreibprozesse eng verknüpft sind. Erst die schriftliche Auseinandersetzung mit einem Thema führt zu kritischem Denken (vgl. Kruse, 2017).
Peer-Feedback ist ein weiteres Element, das ich in meinen Kurs einbaue. Ich ermutige die Studierenden, sich gegenseitig Feedback auf Texte zu geben. Dabei erlebe ich häufig, dass die Studierenden zurückhaltend sind, unfertige Texte anderen zu zeigen. Studierende haben noch keine Praxis etabliert, unfertige Texte zu zeigen und anschliessend zu revidieren (Honegger, 2008). Wenn eine Überarbeitung stattfindet, dann oft auf der Textoberfläche, d.h. z.B. Rechtschreibung oder Interpunktion. Darum ist mir wichtig, den Studierenden bewusst Feedback zu Verständlichkeit, Nachvollziehbarkeit und Struktur zu geben und nicht auf die Mikrostruktur der Texte zu fokussieren.
Zudem haben die Studierenden Bedenken, kein qualifiziertes Feedback geben zu können, da sie erst lernen, was wissenschaftliches Schreiben überhaupt bedeutet. Ich erkläre den Studierenden dann, warum beide Parteien für ihre Schreibkompetenz profitieren, wenn sie sich Textfeedback geben. Schliesslich übergebe ich den Studierenden damit in einem gewissen Rahmen auch Verantwortung für ihren Schreiblernprozess.
«Schreibprozessbegleitung gelingt mir, wenn…»
- Als Lehrende habe ich verschiedene Rollen. Ich bewege mich zwischen beraten, begleiten und beurteilen. Es hilft, sich zwischendurch dieser Rollenvielfalt bewusst zu werden.
- Es geht darum, den Schreibprozess zu begleiten und nicht das perfekte Endprodukt zu erwarten. Die Studierenden lernen am entstehenden Text.
- Feedback auf konkrete Textstellen geben und übers Schreiben sprechen hilft den Studierenden bei der Weiterentwicklung ihrer Schreibkompetenz.
- Die Schreibkompetenzen der Studierenden sind heterogen. Schreibförderung braucht deshalb soweit möglich eine individuelle Betreuung.
- Feedback zu Verständlichkeit, Nachvollziehbarkeit und Struktur ist relevant. Rechtschreibung und Grammatik zu vermitteln, ist nicht Aufgabe der Dozierenden an Hochschulen.
- Peer-Feedback unterstützt Studierende beim Schreiben lernen, Verantwortung übernehmen für ihre Lernprozesse und unterstützt die Dozierenden bei der Prozessbegleitung zur Weiterentwicklung der Schreibkompetenz auch in grossen Gruppen.