Ein Beitrag von Carmen Burri
Heute werden in der Schweiz jährlich rund 100 Tonnen Kastanien geerntet. Weitere 2’500 Tonnen werden aus der ganzen Welt importiert (Balzarini, 2018). Der Bedarf nach Kastanien ist vorhanden, jedoch fehlt das inländische Angebot. Dies, obwohl seit mehreren Jahrzehnten alte Kastanienselve insbesondere im südlichen Alpenraum renaturiert werden. Wieso kam es also überhaupt dazu, dass die für die Biodiversität bedeutenden hochstämmigen Bäume aus dem Schweizer Landschaftsbild verschwanden?
Es riecht nach Herbst
Es war ein warmer Herbsttag im Oktober, als ich mir meinen Weg durch die engen Gässchen von Poschiavo bahnte, um zum Dorfplatz zu gelangen. Bereits auf halber Strecke sah ich mehrere Plakate, welche mich auf das jährlich stattfindende Kastanienfest aufmerksam machten. Angekommen fand ich eine Handvoll kleiner Markt-Stände mit lokalen Spezialitäten und Handwerkskunst. Nachdem ich mir einen Überblick verschafft hatte, schloss ich mich der Schlange vor dem Marroni-Stand am anderen Ende vom Platz an. Ich begann dem Verkäufer zuzuhören, welcher gerade dabei war, einer Gruppe Interessierter etwas mehr über die Herkunft der Marroni zu erzählen.
Eine kurze Geschichte der Kastanie
Ungefähr im Mittelalter gelangte die Kastanienkultur in die oberen Südalpentäler, genauer gesagt ins Tessin, Misox, Bergell und Puschlav. Danach etablierte sich die Kastanie auch auf der nördlichen Seite der Alpen (Rudow & Borter, 2006). Die Edelkastanie galt zu dieser Zeit aufgrund ihres hohen Nährstoffgehalts als Haupternährungsquelle und prägte das Landschaftsbild der Schweiz (Netzhammer, 2021). Die Phase des Aufschwungs endete im 20. Jahrhundert zur Zeit der Industrialisierung. Auf der Alpennordseite verschwanden die professionell bewirtschafteten Kastanienselve komplett und nur noch vereinzelte Selvenrelikte und Einzelbäume blieben im Süden bestehen (Rudow & Borter, 2006).
Tücken der Industrialisierung
Die Industrialisierung führte im 19. Jahrhundert zu einer intensiveren und mechanisierten Bearbeitung der landwirtschaftlich genutzten Flächen. Mit dem Ziel, die Flächen effizienter bearbeiten zu können, wurden unter anderem Kastanienbäume wegrationalisiert (Nerlich et al., 2013). Gleichzeitig wurde mit dem Bau der Eisenbahnverbindungen vermehrt Reis und andere Getreidearten importiert. Dies führte inländisch zu einem Preisdruck und die Kastanie verlor an wirtschaftlichter Bedeutung (Netzhammer, 2021). Martina Menghini-Cortesi, Landschaftsarchitektin in Poschiavo, sieht in den damaligen Direktzahlungen einen weiteren Grund für das Verschwinden der Kastanienkultur in der Schweiz (M. Menghini-Cortesi, persönliche Kommunikation, 14. Oktober 2021). Insbesondere in den Bergregionen wurde damals die Haltung von Vieh spezifisch honoriert. Leider wurden Ökosystemleistungen wie der Erhalt von Biodiversität durch hochstämmige Bäume noch nicht berücksichtigt (M. Menghini-Cortesi, persönliche Kommunikation, 14. Oktober 2021).
Von der Ernte bis zur «heissen» Marroni
Zur Erntezeit muss unter einem Kastanienbaum vier- bis fünfmal gelesen werden. Schliesslich sollen Wurm und Fäule keinen Schaden hinterlassen oder gar Rehe oder Dachse der Ernte zuvorkommen (Netzhammer, 2021). Nach der Ernte werden die Früchte sechs bis sieben Wochen gedörrt und konserviert (Netzhammer, 2021). Dazu muss das Feuer während dem Dörrvorgang Tag und Nacht brennen. Hinter der «heissen» Marroni, wie sie vermutlich viele Leute am besten kennen, steckt also zeitintensive, manuelle Arbeit und ein anspruchsvolles Traditions-Handwerk.
Und was ist mit der Hasel- und Walnuss?
Neben der Kastanie ist die Geschichte anderer Nüsse in der Schweiz ähnlich verlaufen. Seit den 1950-er Jahren ist der Bestand an Nussbäumen um gut 75% auf 130’000 Einzelbäume gesunken (Gubler, 2013). Die Produktion von Schweizer Walnüssen betrug 2019 10 Tonnen, importiert wurden 2018 rund 3’800 Tonnen, davon rund 1’000 Tonnen ohne Schale (Götz, 2020). Auch bei der Haselnuss sieht das Bild ähnlich aus: 2019 wurden rund 9’000 Tonnen ohne Schale importiert, mit Schale sind es zusätzlich nochmals rund 18 Tonnen mehr (Koch, 2020). Ein Grossteil dieser Menge geht in die Bäckerei- und insbesondere Süsswarenproduktion (Frommelt, 2021). Die Produktion von Haselnüssen hat in der Schweiz erst vor wenigen Jahren richtig gestartet. Andreas Gauch, einer der wenigen Schweizer Haselnuss Pioniere, produzierte mit rund 700 Haselnussbäumen im 6. Standjahr gerade mal 1.5 Tonnen (Frommelt, 2021).
Kastanien Revival
In den letzten Jahrzehnten wurden alte Kastanienselve, auch nördlich der Alpen, mithilfe von staatlicher Unterstützung teilweise revitalisiert (Rudow & Borter, 2006). Dennoch bleibt eine marktorientierte Fruchtproduktion aufgrund der hohen Personalkosten in der Schweiz wohl nur bedingt möglich. Die Konkurrenz aus Italien und China haben hier einen klaren Vorteil. Die Revitalisierung von Kastanienhainen in der Schweiz muss deshalb neben dem Fruchtgenuss, weitere Wertschöpfung erbringen. So richten sich viele der Projekte an Touristen und die Ernte wird mit einem Kastanienfest samt Unterhaltungsmöglichkeiten gefeiert. Weiter könnte der Anbau mit einer extensiven Weidewirtschaft oder einer Durchmischung mit Kirsch- und Birnbäumen realisiert werden und so für mehr Wertschöpfung sorgen.
Dieser Blog-Beitrag entstand im Rahmen des Mastermoduls «Agroecology and Food Systems» des Studiengang Umwelt und Natürliche Ressourcen am Institut für Umwelt und Natürliche Ressourcen der ZHAW im Herbstsemester 2021.
Quellen
Balzarini, R. (2018, Oktober 2). «Heissi Marroni» sind fein aber teuer – trotz guter Kastanienernte. Luzerner Zeitung.
Frommelt, M. (2021, Januar 5). Wo Haselnüsse auf Bäumen wachsen. Bio Suisse. https://www.bio-suisse.ch/de/biosuisse-erleben/blog/posts/2021/01/wo-haselnuesse-auf-baeumen-wachsen.html
Götz, M. (2020, April 25). Herausforderungen der Schweizer Walnuss-Produktion: Klima und Wasserversorgung. Schweizer Agrarmedien. https://www.diegruene.ch/artikel/pflanzenbau/interview-katja-luethi-nussproduktion-nimmt-zu-355862
Gubler, H. (2013). Wiederentdeckung des Nussbaumes und seiner Früchte. Zürcher Wald, 45(2), 23–25.
Koch, M. (2020, September 22). Darum kommen die meisten Haselnüsse aus der Türkei. SRF Schweizer Radio und Fernsehen. https://www.srf.ch/news/schweiz/nischenprodukt-darum-kommen-die-meisten-haselnuesse-aus-der-tuerkei
Menghini-Cortesi, M. (2021, Oktober 14). Verschwinden von hochstämmigen Bäumen wie der Kastanie in den Schweizer Bergen [Persönliche Kommunikation].
Nerlich, K., Graeff-Hönninger, S., & Claupein, W. (2013). Agroforestry in Europe: A review of the disappearance of traditional systems and development of modern agroforestry practices, with emphasis on experiences in Germany. Agroforestry Systems, 87(2), 475–492. https://doi.org/10.1007/s10457-012-9560-2
Netzhammer, M. (2021). Bauer Edos stachliges Glück. netzhammer & breiholz. https://www.netzhammerbreiholz.de/kastanien-schweiz-109.html
Rudow, A., & Borter, P. (2006). Erhaltung der Kastanienkultur in der Schweiz – Erfahrungen aus 46 Selvenrestaurationsprojekten. Schweizerische Zeitschrift für Forstwesen, 157(9), 413–418.