Die Musik unserer Kindheit und Jugend brennt sich tief in unser Gedächtnis ein. Daher ist sie selbst noch zugänglich, wenn wir einen grossen Teil unseres Gedächtnisses z.B. aufgrund einer Demenz verloren haben. Dieser Umstand brachte Verena Speck auf eine innovative Idee.
Nicht nur deswegen bat ich sie zum Gespräch. Mich interessierte zudem, dass sie eine neue «Karriere» nach der Pensionierung begann, und auch dass sie gezielt mit älteren Menschen arbeitete.
Frau Speck, wie haben Sie selbst den Übergang vom regulären Arbeitsleben in Ihre Teilzeitpensionierung erlebt?
Bereits während meiner Arbeit beim Radio (s. zur Person) war ich immer wieder innovativ und voller Neugierde. Mit 60 Jahren habe ich mich dann frühpensionieren lassen, weil ich keine Sesselkleberin sein wollte. Mit der neu gewonnenen Zeit erfüllte ich mir zunächst einen lang gehegten Wunsch, nämlich einen vier Wochen langen Sprachkurs in Grossbritannien. Danach habe ich als Freiwillige bei Projekten der Caritas mitgearbeitet und viele Städte-Trips gemacht. Die Freiwilligenarbeit war mit sehr viel Verantwortung verbunden, das hat mich belastet und die Städte-Trips sind mir schnell «verleidet». Ich wollte lieber wieder in einem Arbeitsprozess drin sein.
Durch Zufall entdeckte mein Neffe ein Inserat, in welchem für eine Seniorenresidenz jemand mit Lebenserfahrung, Interesse an Architektur und sozialen Kompetenzen gesucht wurde. „Das wurde für dich geschrieben“, meinte er. Kurzum bewarb ich mich und erhielt die Stelle als Wohnberaterin. Für mich war es toll, die eigene Lebenserfahrung einzubringen, mich mit Leib und Seele mit dem Leitbild zu identifizieren und die Menschen dort sind mir ans Herz gewachsen. Für viele war der Umzug von einem Haus oder einer Wohnung in die Seniorenresidenz sehr schmerzhaft. Sie mussten sehr viele Sachen weggeben, da sie weniger Platz zur Verfügung hatten, und vom gewohnten Leben Abschied nehmen.
Wie kamen Sie auf die Idee der Tanzcafés?
Einmal begleitete ich im Rahmen dieser Tätigkeit eine Fabrikantengattin im Zürich Oberland, die in einer Villa wohnte und in die schönste Alterswohnung zu ziehen beabsichtigte. Sie besass eine sehr grosse Plattensammlung, ungefähr 500 LPs mit Operetten, Schlager- und Unterhaltungsmusik von Peter Alexander bis Johann Strauss: die Musik meiner Generation. Sie wollte sich von dieser Sammlung trennen. Da kam Ich auf die Idee, diesen Menschen, die in Alterswohneinrichtungen ziehen und so vieles loslassen müssen, etwas zurückzugeben, und zwar in Form von Musik. Deshalb übernahm ich die Sammlung.
Allmählich reifte in mir die Idee, mich selbstständig zu machen. Bei einem familieninternen Brainstorming fiel der Ausdruck Kaltmamsell, eine altertümliche Bezeichnung aus der Gastronomie. Daraus entstand der Name Musikmamsell. Mir gefiel der Ausdruck, denn wie die Kaltmamsell biete ich als Musikmamsell ebenfalls eine Dienstleistung an. Mein Angebot waren Wunschkonzerte, Musikquizzes und Musiklottos.
Durch meine frühere Tätigkeit als Wohnberaterin besass ich viele Kontakte zu Altersheimen. Und dank Mund-zu-Mund-Propaganda bekam ich Angebote aus der ganzen Deutschschweiz. Auch viele Aktivierungsfachpersonen habe ich kennengelernt. Diese haben sich dann sehr für meine Angebote interessiert und mich oft eingeladen, z.B. nach Luzern, Horw und Bern.
Was hat Sie am meisten an Ihrer Arbeit als Musikmamsell fasziniert?
Was mir am besten gefallen hat, war, dass vermeintlich sprachlose Menschen plötzlich mitsingen oder sich mit der Musik bewegen konnten. Bei einem meiner Engagements in einer Senioren-Residenz in Muri bei Bern liess ein Senior seinen Rollator stehen und tanzte mit einer Pflegerin zu seinem Wunschlied „Ich tanze mit dir in den Himmel hinein», dem alten Filmschlager, gesungen von Lilian Harvey und Willy Fritsch.
Ich habe das Personal gebeten, auch die Bewohnenden mit Demenz an den Anlass zu bringen, da die Musik einen Zugang zu ihren Erinnerungen ermöglicht. Es war mir ein wichtiges Anliegen auch an öffentlichen Orten aufzulegen, zum Beispiel im Restaurant, denn die Tanzcafés sollten sichtbar und niederschwellig zu erreichen sein. Einen geeigneten Ort fand ich beim Bahnhof Oerlikon. Zu meiner Freude kamen die Leute in ihren Sonntagskleidern, was den Anlass zu etwas Besonderem machte.
Leider wurde genau dieser Raum in Oerlikon dann umgenutzt, sodass ein Tanzcafé nicht mehr möglich war. Statt einen neuen Raum zu suchen, habe ich 2018 aufgehört. Denn Räume, die meinen Ansprüchen genügen, sind rar. Mir war Professionalität immer sehr wichtig. Mein Tanzcafé war für mich mehr als ein Hobby gewesen.
Wie ging es dann weiter mit Ihrer Arbeit?
Ich bekam von allen Seiten immer wieder LPs geschenkt. Die Sammlung wurde grösser und ich fing an, die Platten über eine eigene Webseite zu verkaufen. Mein Büro in einer ehemaligen Schreinerei verwandelte sich Schritt für Schritt in einen Schallplattenladen. Der Laden und der Versand liefen gut. Das Lokal war allerdings sanierungsbedürftig und persönliche Umstände bewogen mich, den Laden aufzugeben und nach Winterthur, in die Nähe meiner Tochter und deren Familie umzuziehen. Den Online-Plattenladen behielt ich jedoch weiterhin.
Wie konnten Sie ihr Musikwissen sonst noch einsetzen?
Für ein Demenzheim habe ich aufgrund von biografischen Angaben Playlists für Bewohnende zusammengestellt oder bei der Suche nach geliebten Titeln geholfen. Oder bei Wunschkonzerten verschollene Lieblingsmelodien aufgespürt. Einmal hat mir jemand gesagt, er erinnere sich an ein Lied, aber er wisse nur noch, dass es um s’ Muetti ging. Als ich ihm das Lied O Müeti von Ruedi Rüegsegger abgespielt habe, liefen ihm Tränen herunter. Dieses Lied habe er seit seiner Kindheit nicht mehr gehört.
Ein anderes Mal erhielt ich eine Anfrage von einem Mann Mitte 80, der sterben wollte, aber vorher nochmal einen bestimmten Männerchor hören wollte. Das Lied fand ich auf einer alten Schellackplatte und als er es hörte, wollte er dann doch nicht mehr sterben.
Welche sind Ihre persönlichen Lieblingslieder oder Sänger:innen?
Ich höre nicht nur Musik von früher, sondern auch aktuelle Musik.
- Aus der früheren Zeit: der französische Chansonnier Charles Treney (z.B. Y’a d’la joie)
- Aus der nicht so fernen Vergangenheit: Billy Joel (z.B. Vienna)
- Aktuelle Musik: Elektro-Chanson mit Zaho de Sagazan (La symphonie des éclairs)
Was ist Ihrer Meinung nach das Wichtigste im Alter?
Das Wichtigste im Alter ist, neugierig zu bleiben. Mein Leben ist von vielen Zufällen geprägt und es wird sich wieder etwas Neues ergeben. Meine Neugier hat mich bisher nicht verlassen. Ich möchte nicht, dass das Einkaufen die einzige Herausforderung resp. der einzige Grund ist, aus der Wohnung zu gehen. Keinesfalls möchte ich isoliert leben. Mein Ziel ist ein neues Projekt. Es könnte die Beteiligung an einem Quartier-Café sein oder ganz was anderes.
Zudem habe ich fünf Enkelkinder, zu denen ich einen regen Kontakt habe. Ich bin nun in einer Phase der Dankbarkeit. Ich sehe Joie (Freude, siehe Lieblingslied) an vielen Orten.
Zur Person
Verena Speck (Jahrgang 1942) war 39 Jahre lang beim Schweizer Radio DRS 1 tätig – als Moderatorin, Redaktorin, Reporterin und schliesslich als Co-Leiterin der «Musigwälle 531». Bekannt war sie auch als Präsentatorin vom «Spielhaus» am Schweizer Fernsehen.
Ab 2006 bis 2018 war Verena Speck als Musikmamsell unterwegs und weckte mit ihren mobilen Plattenspielern musikalische Erinnerungen. Viel Beachtung fand ihr Tanzcafé für Menschen mit Demenz.
Ihren Plattenladen hat sie ihrem Nachfolger Timo Surbeck übergeben. Online unter platten-laden.ch zu finden.
Persönlicher Nachtrag
Als junge Frau hatte ich kurze Zeit auf der gerontologischen Psychiatriestation gearbeitet. Dort gab es einen 97jährigen, stark dementen Patienten. Er wirkte sehr wach und hatte Humor, aber er sprach kein Wort mehr.
Eines Nachmittags hörte er im Radio ein Lied und fing mit einer Pflegerin an zu tanzen. Trotz unsicheren Schritten beim Gehen, war es offensichtlich, dass er ein guter Tänzer war. Wenige Tage später starb er, aber sein friedlicher Ausdruck und seine Geschicklichkeit beim Tanzen haben mich sehr berührt und deshalb habe ich dieses Erlebnis in meinem Gedächtnis behalten.
Interview: Nicole A. Baur