buntes Fragezeichen für eine Frau auf Reisen

Darf ich Sie was fragen? (Gabriela, 66)

In regelmässigen Abständen befragen wir Personen zu ihrer Einstellung zum Älterwerden. Gabriela findet das Schönste am Altsein das Reisen und das Wandern. Sie spricht sechs Sprachen und sagt, Reisen sei ihre beste Therapie gewesen.

Was würden Sie Ihrem halb so alten Ich mitteilen?

Meine Liebe, wenn ich damals mit 33 Jahren gewusst hätte, wie es läuft, ich hätte im Leben mehr darauf geachtet, nicht so viel zu arbeiten und dermassen viel zu helfen. Es ist wichtig, Zeit für sich zu finden, das ist gesunder Egoismus. Ich habe das erst nach meinem Schlaganfall (vor 5,5 Jahren) begriffen. Es ist gut, Zeit für sich zu finden. Jeder muss nach Arbeit und Erholung schauen. Ich würde früher negative Kontakte beenden.

Wann haben Sie sich zum ersten Mal “alt” gefühlt?

Früher dachte ich, mit 60 werde ich eine alte Frau sein. Heute fühle ich mich mit bald 66 Jahren überhaupt nicht alt. Ich arbeite weiter, aber nur, was ich gerne mache.

Was bedeutet für Sie “alt sein”?

Ich habe vieles geregelt mit meinem Ex-Mann, mit dem Haus, mit der Pensionierung, mit negativen Kontakten.
Im Moment kann ich es mir nicht ohne Arbeit vorstellen, solange ich mich bewegen kann, arbeite ich. Ich habe Menschen gerne. Zum Beispiel arbeite ich gerne für eine Frau, die über 100 Jahre alt ist, und die noch zu Hause lebt.

Wie unterscheidet sich Ihr eigenes Älterwerden von demjenigen Ihrer Eltern oder Grosseltern?

Das war in Schlesien und es waren kommunistische Zeiten. Die Eltern hatten ein kleines Haus mit Garten. Ich habe beobachtet: Alle hatten Diabetes und sind früh gestorben bis auf meine Oma. Ich merkte mir das als 20-jährige Frau und habe versucht, wenig Süßes und keinen Zucker zu essen. Die Oma wurde zwar alt, wurde aber sehr dement. Ich habe meine Oma gepflegt und war damit aber überfordert. Es gab damals keine Spitex oder ähnliches.

Was möchten Sie noch erleben?

Ich möchte noch reisen, reisen, reisen. Ich mache den Pilgerweg Stück für Stück und fing am Bodensee an und bin dieses Jahr bis Brunnen (SZ) gekommen. Das Ziel ist, vor meinem 70. in Santiago del Compostela anzukommen.
Und ich möchte meine persönlichen Kontakte geniessen.

Worauf sind Sie stolz?

Auf verschiedene Momente.
Ich habe ein Haus mitgebaut in kommunistische Zeiten.
Ich bin stolz darauf, dass ich in mehreren Ländern (in Deutschland, in den Niederlanden, in Grossbritannien und in der Schweiz) gearbeitet habe.
Auf meine Kinder und meine Enkel, und dass diese es gut haben. Man kann sich glücklich schätzen, wenn es mit den Kindern gelingt.
Nach der Scheidung habe ich im Ausland gearbeitet. In Grossbritannien habe ich bis zu 14 Stunden am Tag gearbeitet, um meine eigene Firma (Lebensmittelgeschäfte in Polen) zu retten.

Wie stellen Sie sich Ihren optimalen Alterswohnsitz vor?

Das Mehrgenerationenhaus ist schon ziemlich optimal. Ich helfe den Nachbarn, vielleicht bekomme ich im Alter etwas zurück. Es muss aber nicht von den selben Personen sein. Ich kann mir nicht vorstellen, in ein Altersheim zu ziehen, eher in eine Alters-WG. Ich habe erst nach dem Schlaganfall gelernt, Hilfe annehmen zu können. Hier im Mehrgenerationenhaus haben mir mehrere Nachbar:innen Hilfe angeboten. Ich habe gemerkt, es ist einfacher, Hilfe zu geben, aus anzunehmen.
Beim optimalen Alterswohnsitz wäre es toll, wenn ich eine Hilfe aus Polen hätte, damit ich mit ihr Polnisch sprechen kann.

Wie hat sich Ihr Verhältnis zum Spiegel mit dem Älterwerden verändert?

Akzeptieren ist immer mehr mein Thema. Seit ich diese Spezialpflaster verwende, sehe ich besser aus und habe dickere Haare. Ich werde nie eine Schönheitsoperation machen. Ich kann mir auch keine Botox-Behandlung vorstellen.

Was fanden Sie früher besser? Was schlechter?

Ich hatte mein halbes Leben lang hormonelle Probleme, das ist jetzt besser.
Früher war ich viel gestresst. Jetzt kann ich das Leben genießen.

Das Leben war früher ganz anders. Nach dem Abitur überlegte ich, ob ich Mathematik studiere oder diesen Job als Regionalleiterin einer Jugendorganisation übernehme. Letzteres schien mir sicherer. Aber dann wurde mir gesagt, dass ich dafür Mitglied der kommunistischen Partei werden müsse. Das wollte ich um keinen Preis. Ich habe dann ehrenamtlich für diese Organisation gearbeitet, sogar als Leiterin. Ich habe u.a. ein Erntedankfest für 1.000 Personen organisiert. Und zu 75% arbeitete ich als die Bibliothekarin.
Früher hat mich diese Ungerechtigkeit beschäftigt, jetzt nicht mehr. Ich bleibe positiv.
Was geblieben ist: Ich bin immer gewandert.

Und was macht Ihnen dabei am meisten Freude?

Das ist das Schönste am Altsein: Reisen und Wandern.
Die Reisen waren meine beste Therapie. Besonders Interrail hat es mir angetan. Interrail ist auch gut für das Gehirn, weil man so vieles organisieren muss. Ich habe in meinem Leben sehr viele Kontakte. Und sehr viele aus Polen sind ausgewandert. Ich kann sie alle besuchen in Norwegen und England, etc. Ich habe mit 62 Jahren gelernt zu fischen bei einem solchen Besuch. Und es gibt immer wieder etwas Neues zu entdecken: ich gehe z.B. ins Herbstlager des Mehrgenerationenhauses.


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Gabriela (bald 66) wohnt seit 2013 im Mehrgenerationenhaus in Winterthur. Sie arbeitet für die Spitex von Pro Senectute. Ihre beiden Söhne leben mit ihren Familien in Polen resp. in den Niederlanden. Sie liebt es zu reisen. Sie spricht sechs Sprachen ohne einen Sprachkurs besucht zu haben.


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