Lösen OER die Herausforderungen der Curriculum-Entwicklung im digitalen Zeitalter?

Beitrag von Gaudenz Metzger

OER – Kongress Luzern (Foto: Gaudenz Metzger)

In diesem Blog-Eintrag soll die von Ulf-Daniel Ehlers diskutierte Frage, wie OER die durch die Digitalisierung ausgelösten Veränderungen in der Berufspraxis produktiv unterstützen können, beleuchtet werden. Dieser Wandel stellt die Fachhochschulen vor erhebliche Herausforderungen. Was für neue Berufsfelder gibt es in zwanzig Jahren? Welche Kompetenzen müssen den Studierenden dafür vermittelt werden? Um diese Schwierigkeiten zu lösen, fordert Ehlers eine verstärkte institutionelle Einbindung von OER. Damit soll eine erhöhte Flexibilisierung und Individualisierung der Studiengänge erreicht werden. Aber wäre in Anbetracht dieser Unsicherheit nicht auch der umgekehrte Weg möglich, nämlich eine verstärkte Konzentration auf die Vermittlung von grundlegenden Fähigkeiten? Dieser kurze Text hält keinen Lösungsvorschlag bereit, vielmehr lädt er den Leser dazu ein, über die Rolle von Bildungsinstitutionen im digitalen Zeitalter nachzudenken.

Was sind OER?

Vom 28. bis 29. Januar 2019 fanden in Luzern die openlearningdays.ch statt. An der Konferenz wurde zum ersten Mal in der Schweiz das zurzeit sehr aktuelle Thema Open Educational Resources (OER) in einer grossen Bandbreite diskutiert. Das dichte Programm umfasste neben vier Keynotes von Experten zahlreiche Workshops, in denen unterschiedliche Aspekte von OER präsentiert wurden.

Gemäss UNESCO-Definition stellen OER frei verfügbare Bildungsmaterialen dar, die unter einer offenen Lizenz stehen (etwa Creative Commons) und von jedermann ohne oder nur mit geringfügiger Einschränkung weiterverbreitet und bearbeitet werden können.[1] OER sind längst im europäischen Alltag angekommen. Wir benutzen Ressourcen wie Wikipedia, YouTube-Videos oder andere online bereitgestellt Lernmaterialen beinahe täglich für die Wissensaneignung und -vermittlung. In einer Umfrage von 2017 zur Nutzung digitaler Lernmethoden in Deutschland gaben mehr als 70% der Befragten an, Wikipedia für die persönliche Weiterbildung zu verwenden. Zudem wird aus der Studie ersichtlich, dass knapp 60% der Teilnehmenden elektronische Texte wie PDF-Dokumente oder E-Books nutzen.[2] Tendenz steigend.

Frei zugängliche Materialen und Technologien beeinflussen aber nicht nur das Lernverhalten einzelner Individuen, sondern fordern gleichzeitig auch das Verständnis von Bildungsinstitutionen und die damit verknüpften Bildungspraktiken heraus. Gerade im Hinblick auf die immer stärker voranschreitende Digitalisierung stellt sich für Hochschulen die Frage, wie OER institutionell eingesetzt und eingebunden werden können, um einen Mehrwert für die Ausbildung junger Erwachsener zu generieren. Um dieses Thema kreiste die Keynote «Moving from Resources to Cultures and Practice of OPEN» von Ulf-Daniel Ehlers.

Herausforderungen für Bildungsinstitutionen

Was sind konkrete Herausforderungen für Bildungsinstitutionen heute? Anhand seines jungen Sohnes macht Ehlers deutlich, dass eine Prognose darüber, wie das Studium dieser Generation gestaltet sein wird, äussert schwierig ist. Grund dafür sind die durch die Digitalisierung ausgelösten Veränderungen auf dem Berufsmarkt und die damit einhergehende, verstärkte Akademisierung der Bevölkerung. Dieser Prozess schreitet immer schneller voran. Bekanntlich forciert die Digitalisierung immer kürzere Marktdurchdringungszeiten von Innovationen und fordert sowohl im Beruf als auch in der Freizeit eine ständige Anpassung unserer Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster. Wer sich diesen Veränderungen nicht anpassen kann, hat es schwer. Gefordert ist lebenslanges Lernen.

Die Hochschulen stehen vor einem zweifachen Problem: Sie müssen einerseits ihre Curricula und Weiterbildungsangebote den veränderten Anforderungen des Marktes anpassen, damit ihre Absolventen fit für den Beruf sind. Aufgrund des beschleunigten Wandels ist es aber zunehmend schwierig vorauszusagen, welche spezifischen Kompetenzen dort gefordert sind. Andererseits müssen die Hochschulen mehr Leute ausbilden, weil im Zuge der Digitalisierung immer mehr spezialisierte Berufe entstehen, während weniger spezialisierte zusehend verschwinden. Dies führt zu Ressourcen- und Platzproblemen. Gemäss Ehlers braucht es deshalb individualisierte Lernarchitekturen, die «das Problem der Masse» lösen und der Flexibilisierung der Arbeitswelt Rechnung tragen. Offene, online verfügbare Lernressourcen sollen bei der Lösung dieser Probleme ein zentraler Faktor spielen.

Lernen im digitalen Zeitalter

Ehlers nennt als ein Beispiel für ein solches individualisiertes und kompetenzbasiertes Lernmodell die von LinkedIn aufgebaute Plattform lynda.com. Die eingeschriebenen Lernenden können sich dort spezifische Skills für die aktuelle oder eine zukünftige Tätigkeit aneignen. Gemäss dem CEO Jeff Weiner ist LinkedIn die Universität der Zukunft. Wie kommt der CEO auf diese Idee?

LinkedIn kennt die CVs ihrer Benutzer und weiss, was die ausgeschriebenen Stellen von den Bewerbern fordern. Ehlers bezeichnet dies als «eine validierte Skill-Situation». Diese validierte Situation solle es LinkedIn möglich machen, den Lernenden massgeschneiderte Angebote zu vermitteln. An diesem Punkt sieht Ehlers einen grossen Nachholbedarf an den Universitäten. Ihre Schwäche sei, dass nur «grosse Stücke, sprich Bachelor- und Masterstudiengänge angeboten werden». Aus diesem Grund fordert er neue «Masternarrative». Die Universitäten müssten vermehrt auch «kleinere Stücke anbieten», d.h. flexible Programme, die die Studierenden selbst zusammenstellen. Diese sollen den individuellen Bedürfnissen, aber gleichzeitig auch jenen des Marktes gerecht werden.

Hier kommen Open Educational Ressources ins Spiel. Diese würden, so Ehlers, offene und flexible Bildungsarchitekturen ermöglichen. Die Studierenden können im Internet ganze Online-Kurse besuchen oder einzelne Video-Tutorials anschauen, in denen sie bestimmte Probleme zu lösen lernen. Diese «Nuggets» bilden die kleinen Bausteine der individuellen Curricula.

Die Rolle der Institution

Ehlers Argumentation wirft die Frage auf, welche Rolle Fachhochschulen in unserer Gesellschaft zukünftig einnehmen wollen. Funktionieren sie ähnlich wie die Lernplattform von LinkedIn oder setzen sie auf andere Modelle? Eine berechtigte Frage aus dem Publikum an Ehlers lautete, ob die Hochschulen in den nächsten Jahren zu Zertifizierungsmaschinen werden. Folgen wir der skizzierten Idee der vollkommenen offenen und individualisierten Lernstrukturen scheint ein solches Szenario nicht abwegig. Und auch Ehlers konnte diesen Einwand nicht entkräften. Welche Alternative gäbe es also dazu?

In Anbetracht des rasanten Wandels und der ungewissen Zukunft scheint auch ein umgekehrter Weg gangbar – anstelle von vollkommener Individualisierung im Sinne von «my own curriculm» eine verstärkte Konzentration auf die Vermittlung von grundlegenden Fähigkeiten wie abstraktes Denken oder Sozialkompetenz. Eine solche Gangrichtung wäre rational durchaus begründbar: Wenn die Prognosen über die beruflichen Herausforderungen der Zukunft immer schwieriger werden, dann sollte man den Studierenden die Dinge vermitteln, die eine vermeintlich solide Basis für den erfinderischen Umgang mit diesen heute noch unbekannten Problemen bereitstellen.

OER könnten dabei als ergänzende Lehr- und Lernmaterialen eingesetzt werden, was der schon heute gängigen Praxis entspricht. Das Problem der institutionellen Einbindung dieser Ressourcen ist damit zwar nicht gelöst, dafür wird eine aus meiner Sicht primär zu diskutierende Frage aufgedeckt: Wie können wir die Zukunft der Hochschule gestalten, ohne dabei vorschnell Schlagwörtern und Trends aufzusitzen?

Recognition of Learning

Eine institutionelle Einbindung dieser «Nuggets» ist eng an das zurzeit viel diskutierte Thema «recognition of learning» gebunden. Wie sollen Hochschulen Fähigkeiten validieren und anerkennen, die sich Studierende ausserhalb des institutionellen Kontextes angeeignet haben, etwa in Online-Kursen bei edX und Coursera oder in sozialen Interkationen im Alltag?

Die institutionelle Einbindung von OER als Grundbausteine für individuelle und flexible Curricula setzt eine solche Anerkennung und die damit verbundenen Prüfungsverfahren voraus. Diese sind komplex und benötigen mitunter viele Ressourcen. Gerade dieses Problem wurde von Ehlers nicht angeschnitten. Wie viele Ressourcen flexible und individuelle Bildungsstrukturen letztlich benötigen, müsste an konkreten Beispielen aus der Praxis überprüft werden.

[1] https://www.unesco.de/bildung/open-educational-resources (aufgerufen am 30. Januar 2019)

[2] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/819531/umfrage/nutzung-digitaler-lernmethoden-in-deutschland (aufgerufen am 31. Januar 2019)


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