Die Renaissance der Vielfalt: Multifunktionale Nutztierhaltung als Schlüssel zur nachhaltigen Landwirtschaft

Ein Beitrag von Alexander Greiner

In einer Zeit, in der die globalen Herausforderungen der Ernährungssicherheit, Umweltverschmutzung und des Klimawandels immer drängender werden, eröffnet die multifunktionale Nutztierhaltung neue Perspektiven. Dieses Konzept positioniert Nutztiere nicht nur als Nahrungsmittellieferanten, sondern als integrale Bestandteile eines komplexen ökologischen Systems. Sie werden als Mitgeschöpfe in den Mittelpunkt gerückt und vom vermeintlichen Umweltsünder zu Schlüsselfiguren einer nachhaltigen Landwirtschaft – zum Wohle von Mensch, Tier und Umwelt.

Entmystifizierung der Nutztierhaltung

Die öffentliche Debatte um Nutztiere, insbesondere Rinder, ist oft von Missverständnissen geprägt. Entgegen der weitverbreiteten Annahme sind ihre Methanemissionen nicht für den anthropogenen Klimawandel verantwortlich [1]. Sie sind wie der menschliche Atem ein Teil des natürlichen Kohlenstoffkreislaufs. Auch müssen Nutztiere keine Nahrungskonkurrenz darstellen und den weltweiten Hunger verstärken. In zirkulären Systemen, in denen keine menschenessbaren Futtermittel eingesetzt werden, können sie eine positive Proteinbilanz aufweisen und zur Ernährungssicherheit beitragen [2]. Und doch ist die aktuelle Nutztierhaltung für vielfältige Problemen verantwortlich. Sie verstärkt weltweit die Bodendegradation, Wasserverschmutzung, Verlust von Biodiversität und Feinstaub- sowie Treibhausgasemissionen [3-7]. Gleichzeitig missachtet sie das Tierwohl [8], erhöht den Antibiotikaeinsatz [9, 10] und trägt zu einem Überkonsum mit negativen gesundheitlichen Folgen bei [11-13].

Das Problem liegt folglich nicht im Nutztier selbst, sondern im System aus Haltung, Fütterung und Management. In der modernen, industrialisierten Landwirtschaft werden ökologische und ethische Aspekte zugunsten kurzfristiger Gewinnmaximierung vernachlässigt. Eine nachhaltige Lösung erfordert daher eine grundlegende Transformation des landwirtschaftlichen Systems, die ökologische, ethische und gesundheitliche Aspekte in den Vordergrund stellt. Doch kann ein solches System eindimensional sein?

Wiederentdeckung der Multifunktionalität

Die Ursprünge der Landwirtschaft waren multifunktional. Nutztiere pflegten die Landschaften und wandelten Gras und Essensreste in hochwertiges Protein um, zogen Pflüge und Wägen und dienten als Wärmequelle in Gebäuden. Mit der Industrialisierung und dem verstärkten Einsatz fossiler Energie ging diese Vielfalt der Funktionen verloren. Gleichzeitig wurden Tiere verstärkt zu Produktionseinheiten, die von ihrem natürlichen Lebensraum entfremdet wurden. Die multifunktionale Nutztierhaltung dagegen betrachtet Tiere als Mitgeschöpfe mit vielfältigen Rollen im Ökosystem:

  • Landschafts- und Deichpflege durch Beweidung
  • Klimaschutz durch Erhaltung von Grünland als Kohlenstoffsenke und Wasserspeicher
  • Förderung der Biodiversität und Bodenfruchtbarkeit
  • Umwandlung ungenießbarer Biomasse in hochwertige Nahrungsmittel
  • Klimatisch und regional angepasste Zucht zum Erhalt eines großen Genpools

Die Erfüllung der einzelnen Funktionen könnte sogar als einfacher Proxy für die Nachhaltigkeitsbewertung eines Systems dienen (s. Abb. 1). Das bedeutet, je mehr Funktionen erfüllt sind, desto nachhaltiger wäre das System [14].


Ressourceneffizienz durch Vielfalt

In einem multifunktionalen System existieren natürliche Grenzen. Die Produktionsgrundlage ist durch das lokale Futterangebot begrenzt. Die Nutztiere grasen auf Flächen, die für den Ackerbau ungeeignet sind und verwerten nicht essbares Getreide, Gemüse und Stroh sowie Nebenprodukte der Lebensmittelindustrie (siehe Abb. 2). Gleichzeitig führt eine veränderte Anbaupraxis dazu, dass auf ackerbaulich geeigneten Flächen primär für den direkten menschlichen Konsum produziert wird. Futterpflanzen werden nur angebaut, wenn es für die Fruchtfolge zur Gesunderhaltung der Böden absolut notwendig ist [14]. Ein solches System mit geringen Opportunitätskosten der Biomasse ermöglicht die effizienteste Nutzung landwirtschaftlicher Flächen – sogar im Vergleich zu einer rein veganen Ernährung [16].


Neukonzeption von Effizienz und Nachhaltigkeit

Die multifunktionale Nutztierhaltung erfordert ein Umdenken bei der Definition von Effizienz. Statt maximaler Produktionsmengen und interner Kostenminimierung steht die Gesamteffizienz des Systems im Vordergrund, einschließlich externer Faktoren wie Ressourcennutzung, Umweltauswirkungen und Tierwohl. Eine Reduktion der Nutztierhaltung auf die Verwertung von Grünland und Nebenprodukte kann nicht nur die landwirtschaftliche Fläche für die Tierproduktion senken, sondern auch Umweltbelastungen reduzieren [17].

Herausforderungen und Zukunftsperspektiven

Die Integration multifunktionaler Systeme in bestehende Agrar- und Verarbeitungsstrukturen und die Sicherstellung ihrer wirtschaftlichen Tragfähigkeit stellen komplexe Herausforderungen dar. Auch erfordert die Umsetzung ganzheitliche, international abgestimmte Lösungen, um Produktionsverlagerungen in Länder mit niedrigeren Standards zu vermeiden.

Auch wenn in Deutschland der ernährungsphysiologische Bedarf an tierischen Lebensmitteln durch eine multifunktionale Nutztierhaltung gedeckt werden könnte [14], setzt dieses System ein verändertes Konsumverhalten mit höheren Preisen und reduziertem Verzehr von tierischen Produkten voraus. Diese Erkenntnis unterstreicht die Notwendigkeit eines ganzheitlichen Ansatzes, der nicht nur die Produktionsseite, sondern auch die Konsummuster in den Blick nimmt.

Die Implementierung eines solchen Systems würde folglich eine zweifache Transformation erfordern: einerseits in der landwirtschaftlichen Praxis hin zu multifunktionalen Systemen, andererseits in den Ernährungsgewohnheiten der Bevölkerung. Diese Veränderungen bieten die Chance, ein Gleichgewicht zwischen menschlichen Ernährungsbedürfnissen, Tierwohl und Umweltschutz zu erreichen.

Fazit

Die multifunktionale Nutztierhaltung bietet einen vielversprechenden Ansatz zur Überwindung der Mythen über Nutztierhaltung und zur Schaffung eines wahrhaft zukunftsfähigen Ernährungssystems. Sie erinnert uns daran, dass die Natur keine Monokulturen kennt und dass Tiere mehr sind als nur Nahrungsmittellieferanten. Durch die Betrachtung des Tieres als Mitgeschöpf und die Nutzung seiner vielfältigen Funktionen können wir nicht nur die Ernährungssicherheit verbessern, sondern auch einen nachhaltigen Umgang mit unserer Umwelt erreichen.

Als Verbraucher können wir etwas bewirken. Es beginnt mit der Frage: Wie viel tierische Produkte muss ich tatsächlich konsumieren, um gesund zu bleiben? Denn was gut für unseren Körper ist, nützt oft auch unserer Umwelt und den Tieren. In der Natur ist alles miteinander verbunden, deshalb sollten wir nur so viel nehmen, wie wir brauchen, und so viel geben, wie wir können.


Referenzen

[1] Liu, Shule, Proudman, Joe und Mitloehner, Frank M. (2021): „Rethinking methane from animal agriculture“ CABI Agriculture and Bioscience. (2)Nr. 1 (2021), 22. doi:10.1186/s43170-021-00041-y

[2] Mottet, Anne, de Haan, Cees, Falcucci, Alessandra, Tempio, Giuseppe, Opio, Carolyn und Gerber, Pierre (2017): „Livestock: On our plates or eating at our table? A new analysis of the feed/food debate“ Global Food Security. (14) (2017), 1–8. doi:10.1016/j.gfs.2017.01.001

[3] Benton, Tim G, Bieg, Carling, Harwatt, Helen, Pudasaini, Roshan und Wellesley, Laura (2021): „Food system impacts on biodiversity loss“ (2021). Verfügbar unter: https://www.chathamhouse.org/sites/default/fi-les/2021-02/2021-02-03-food-system-biodiversity-loss-benton-et-al_0.pdf [07.04.2023].

[4] Steinfeld, Henning, Gerber, Pierre, Wassenaar, T. D., Castel, Vincent, Rosales M., Mauricio und Haan, Cees de (2006): Livestock’s long shadow: environmental issues and options. Rome: Food and Agriculture Organization of the United Nations

[5] Bouwman, A. F., Boumans, L. J. M. und Batjes, N. H. (2002): „Modeling global annual N2O and NO emissions from fertilized fields“ Global Biogeochemical Cycles. (16)Nr. 4 (2002), 28-1-28–9. doi:10.1029/2001GB001812

[6] Borrelli, Pasquale, Robinson, David A., Fleischer, Larissa R., Lugato, Emanuele, Ballabio, Cristiano, Alewell, Chris-tine et al. (2017): „An assessment of the global impact of 21st century land use change on soil erosion“ Nature Communications. (8)Nr. 1 (2017), 2013. doi:10.1038/s41467-017-02142-7

[7] Modernel, P, Astigarraga, L und Picasso, V (2013): „Global versus local environmental impacts of grazing and confined beef production systems“ Environmental Research Letters. (8)Nr. 3 (2013), 035052. doi:10.1088/1748-9326/8/3/035052

[8] Hoedemaker, Martina, Arndt, Heide, Birnstiel, Katrin, Do Duc, Phuong, Jensen, Charlotte, Woudstra, Svenja et al. (2020): Abschlussbericht – Tiergesundheit, Hygiene und Biosicherheit in deutschen Milchkuhbetrieben – eine Prävalenzstudie (PraeRi). Verfügbar unter: https://ibei.tiho-hannover.de/praeri/pages/69#_AB [21.10.2023].

[9] Wang, Hang, Qi, Jin-Feng, Qin, Rong, Ding, Kai, Graham, David W. und Zhu, Yong-Guan (2023): „Intensified livestock farming increases antibiotic resistance genotypes and phenotypes in animal feces“ Communications Earth & Environment. (4)Nr. 1 (2023), 1–12. . Nature Publishing Group doi:10.1038/s43247-023-00790-w

[10] Becker, J., Schüpbach-Regula, G., Steiner, A., Perreten, V., Wüthrich, D., Hausherr, A. et al. (2020): „Effects of the novel concept ‘outdoor veal calf’ on antimicrobial use, mortality and weight gain in Switzerland“ Preventive Veterinary Medicine. (176) (2020), 104907. doi:10.1016/j.prevetmed.2020.104907

[11] Battaglia Richi, Evelyne, Baumer, Beatrice, Conrad, Beatrice, Darioli, Roger, Schmid, Alexandra und Keller, Ulrich (2015): „Health Risks Associated with Meat Consumption: A Review of Epidemiological Studies“ International Journal for Vitamin and Nutrition Research. (85)Nr. 1–2 (2015), 70–78. doi:10.1024/0300-9831/a000224

[12] Sun, Yangbo, Liu, Buyun, Snetselaar, Linda G., Wallace, Robert B., Shadyab, Aladdin H., Kroenke, Candyce H. et al. (2021): „Association of Major Dietary Protein Sources With All‐Cause and Cause‐Specific Mortality: Prospective Cohort Study“ Journal of the American Heart Association. (10)Nr. 5 (2021), e015553. doi:10.1161/JAHA.119.015553

[13] Song, Mingyang, Fung, Teresa T., Hu, Frank B., Willett, Walter C., Longo, Valter D., Chan, Andrew T. et al. (2016): „Association of Animal and Plant Protein Intake With All-Cause and Cause-Specific Mortality“ JAMA Internal Medicine. (176)Nr. 10 (2016), 1453. doi:10.1001/jamainternmed.2016.4182

[14] Greiner, Alexander (2023): „Eine multifunktionale Nutztierhaltung als Zukunftskonzept – Kriterien zur Bewertung und Konzipierung einer nachhaltigen Nutztierhaltung mit Fokus Rind“. Verfügbar unter: https://orgprints.org/id/eprint/53237

[15] Hebinck, Aniek, Zurek, Monika, Achterbosch, Thom, Forkman, Björn, Kuijsten, Anneleen, Kuiper, Marijke et al. (2021): „A Sustainability Compass for policy navigation to sustainable food systems“ Global Food Security. (29) (2021), 100546. doi:10.1016/j.gfs.2021.100546

[16] van Zanten, Hannah H. E., Herrero, Mario, Van Hal, Ollie, Röös, Elin, Muller, Adrian, Garnett, Tara et al. (2018): „Defining a land boundary for sustainable livestock consumption“ Global Change Biology. (24)Nr. 9 (2018), 4185–4194. doi:10.1111/gcb.14321

[17] Schader, Christian, Muller, Adrian, Scialabba, Nadia El-Hage, Hecht, Judith, Isensee, Anne, Erb, Karl-Heinz et al. (2015): „Impacts of feeding less food-competing feedstuffs to livestock on global food system sustainability“ Journal of The Royal Society Interface. (12)Nr. 113 (2015), 20150891. doi:10.1098/rsif.2015.0891

Bilder

Würth, Karsten (2016). Braunes Vieh mitten im Wald. https://unsplash.com/de/fotos/braunes-vieh-mitten-im-wald-drdj51vHFkg [08.12.2024].


Dieser Blog-Beitrag entstand aus den Ergebnissen der Masterarbeit von Alexander Greiner [14], die von der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde (HNEE) und der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) im Rahmen eines Double Degree Programms gemeinsam betreut wurde.


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