Zwei unterschiedliche Perspektiven. Wer malt wen?

Demenz – eine Innen- und eine Aussensicht

In ihrer Abschlussarbeit setzte sich eine Studierende mit zwei verschiedenen Perspektiven auf die Pflege in Form zweier Kurzgeschichten auseinander. Die eine Geschichte beschreibt die Sicht eines demenzkranken Mannes, die andere schildert den Blickwinkel einer jungen Pflegefachfrau.  

Die beiden Kurzgeschichten zeigen eindrücklich, wie verschieden wie verschieden die Wahrnehmungen von Menschen sind, die sich in Pflegeheimen aufhalten. Jede Situation wird individuell empfunden und bewertet, besonders, wenn der Verlust der kognitiven Fähigkeiten bei einer der Personen ebenfalls eine Rolle spielt.

Die Geschichte von Herrn Göldi

Etwas verloren steht der alte Mann auf dem Gang und schaut nach rechts. Seltsam, so kennt er doch sein Zuhause gar nicht. Wo ist denn die Terrasse hin? Wurde die abgebaut? Und der Ahorn? Es ist doch Herbst. Die Blätter müssten doch feuerrot sein. 

«Herr Göldi, guten Morgen, Sie sind heute aber früh wach», begrüsst ihn eine junge Frau freundlich. Was trägt denn die? Alles grau, wie schrecklich! 

«Wo ist Käthi?», will er wissen. 

«Ihre Frau kommt doch heute Mittag zu Besuch», antwortet die Frau, «Sie sind doch jetzt im Altersheim, Herr Göldi, wegen Ihrer Demenz.» 

«Nein, nein», meint er verärgert und dreht sich um. Zurück im Zimmer sucht er seine Brille. Wo hat er die nur hingelegt? Auf einem Tischchen steht ein leicht vergilbtes Foto. Käthi. Er setzt sich. Langsam schaut er sich um. Wo bin ich denn hier? 

«Hallo? Hallo?!», ruft er laut. 

«Herr Göldi, was kann ich denn für Sie tun?», will eine junge Frau wissen. 

«Ich brauche das», er gestikuliert wild, «Sie wissen, so ein… und dann… genau.» 

«Soll ich das Fenster öffnen, damit Sie etwas frische Luft bekommen?», will die Frau wissen.  

«Nein!», antwortet er verärgert und fährt sich mit der Hand durch die unfrisierten Haare. 

«Wollen Sie, dass ich Ihnen beim Rasieren helfe?», fragt sie weiter. Er lacht und dreht sich um, dann läuft er weg.

Im Speisesaal

Wo bin ich denn hier gelandet, fragt er sich, als er einen Saal betritt, wo mehrere Personen sitzen. 

«Ah, Herr Göldi, kommen Sie auch noch zum Frühstück?», will ein junger Mann wissen. Er schaut ihn lange an und antwortet nicht. Wer ist denn das jetzt schon wieder? Woher kommen denn all die Leute? Grässlich, wie die alle vor sich hin sabbern. 

«Wollen Sie eine Scheibe Brot und einen Kaffee?», will der Mann wissen. 

«Jaja», meint er und setzt sich. Er dreht das Stück Brot in seinen Händen. Schliesslich reisst er das aus der Mitte heraus und formt daraus eine Kugel, die er auf dem Tisch platziert. 

«Das ist doch zum Essen», meint der alte Mann, der ihm gegenübersitzt. 

«Keinen Hunger», antwortet er. Er nimmt einen Schluck Kaffee und verzieht das Gesicht. Wie ekelhaft! Entrüstet leert er die Tasse in den Teller aus. 

«Geht’s noch?!», fragt er wütend. 

«Was ist denn nicht gut, Herr Göldi?», will eine Frau wissen. 

«Schlimm, schlimm», murmelt er nur leise vor sich hin. Wo bleibt denn Käthi? Sie ist doch sonst nie zu spät zum Frühstück. 

«Käthi?», ruft er laut, «Käthi, Frühstück!» 

«Wollen Sie ein bisschen Zeitung lesen?», fragt jemand. Er schnappt sich wortlos die Zeitung und starrt auf das Titelbild. Es ist komplett verschwommen.  

«Jetzt sparen sie schon bei der Tinte», lacht er, bevor er das Titelblatt abzureissen beginnt. 

«Ihnen fehlt doch nur die Brille», meint eine Frau. Sie setzt ihm etwas auf die Nase. 

«Nein, sowas auch», murmelt er, als er wahllos durch die Zeitung blättert. Irgendetwas stimmt doch hier nicht. 

«So, Herr Göldi, dann wollen wir Sie doch mal etwas frisch machen, bevor Ihre Ehefrau nachher kommt», entscheidet eine junge Frau. 

«Jaja», grummelt er, als sie ihn schon an der Hand wegführt. 

In seinem Zimmer

«Wohin gehen wir?», will er wissen. 

«Zu Ihrem Zimmer», antwortet die junge Frau. 

«Ich bin doch verheiratet», flüstert er leise. Sie lacht. 

«Ich weiss, ich helfe Ihnen doch, sich chic zu machen für Ihre Frau, Herr Göldi», erklärt sie. Seltsam…  

Die Frau macht einen Lappen nass und überreicht ihn ihm. Er wäscht sich das Gesicht und lächelt sie freundlich an. 

«Dann wollen wir Sie doch mal rasieren», meint die Frau. Fasziniert schaut er in den Spiegel. Da sitzt ja schon jemand. Wer ist denn das? Wo ist meine Brille? 

Er lacht: «Schauen Sie mal da! Der da drüben. Der ist ja alt.»

Die Geschichte von Helena, einer Pflegefachfrau, welche auf der Demenzabteilung, wo Herr Göldi stationiert ist, arbeitet

Die Morgenluft ist noch frisch, als Helena das Altersheim betritt. Schnell wechselt sie die Kleider und die Schuhe und betritt dann auch schon ihre Station. Geschlossene Demenzabteilung. Ein Ort voller verlorener Erinnerungen, ein Ort voller Demut und Ungerechtigkeit, und doch ein Ort, den sie zu schätzen gelernt hat. Es war für sie immer ein Ort voller Humor, trotz der Traurigkeit, voller Licht, trotz der trüben Gedanken und ein Ort der Zugehörigkeit, trotz der Verlorenheit der Bewohner.  

Herr Löb, der Anwalt, der sich nicht mehr selbst anziehen kann. Herr Senn, der Polizist, der seine Frau nicht mehr erkennt. Frau Walter, die Lehrerin, die keine vollständigen Sätze mehr formen kann. Sie alle und noch viele mehr sind nur noch Schatten dessen, was sie mal waren. Ein Schatten der Person, die wusste. Ein Schatten der Person, die konnte. Ein Schatten der Person, die kannte. 

Und doch sieht man Herrn Senns Augen glänzen, wenn man ihm einen Becher Eis vor die Nase stellt. Frau Walter beginnt zu lachen, wenn man wild mit Sprichwörtern um sich wirft. Und Herrn Löbs Grinsen reicht beinahe bis zu seinen Ohren, wenn er Besuch von seinen Enkelkindern bekommt. 

Als sie Herrn Göldi im Korridor stehen sieht, lächelt sie leicht. 

«Herr Göldi, guten Morgen, Sie sind heute aber früh wach», begrüsst sie ihn freundlich. 

«Wo ist Käthi?», will er wissen. Er zupft nervös an seiner Pyjamahose herum, die seine Frau ihm schon dreimal geflickt hat. 

«Ihre Frau kommt doch heute Mittag zu Besuch», antwortet sie, «Sie sind doch jetzt im Altersheim, Herr Göldi, wegen Ihrer Demenz.» 

«Nein, nein», meint er verärgert und dreht sich um. Helena lässt ihn gehen. Wenn er verärgert ist, will er sowieso nie essen, sie versucht es dann später nochmals, nach dem Rapport. 

Im Stationszimmer

Im Stationszimmer ist es leise bis auf das Rattern von Tastaturen und stilles Fluchen von Rita, die einen Sturz dokumentieren muss. 

Der Rapport geht sieben Minuten, ausser dem Sturz von Frau König und dass Herr Furrer sich eingestuhlt hat, war die Nacht anscheinend ruhig. 

Helena schnappt sich ihre Medi-Schieber und macht sich auf die Runde.  

Im Speisesaal trifft sie Herrn Göldi an. Er zerreisst gerade seine Zeitung, während Anita versucht, ihm seine Brille aufzusetzen. 

«Kann ich ihn schon mitnehmen? Wir müssen uns ein bisschen sputen, wenn er bereit sein soll, wenn seine Frau kommt», erklärt sie Anita.  

«Jaja, er wollte nicht wirklich essen, aber seine Frau bringt ja sowieso wieder Kuchen, nehme ich an», antwortet sie nickend. 

«So, Herr Göldi, dann wollen wir Sie doch mal etwas frisch machen, bevor Ihre Ehefrau nachher kommt», entscheidet Helena. 

«Jaja», grummelt er, als sie ihn bei der Hand nimmt. 

«Wohin gehen wir?», will er wissen. 

«Zu Ihrem Zimmer», antwortet sie. 

«Ich bin doch verheiratet», flüstert er leise. Helena lacht. Was für eine treue Seele. 

«Ich weiss, ich helfe Ihnen doch, sich chic zu machen für Ihre Frau, Herr Göldi», erklärt sie.  

Helena macht einen Lappen nass und drückt ihn ihm in die Hand. Er nimmt ihn entgegen und wäscht sich das Gesicht. Faszinierend, wie einige Dinge so verankert sind, dass wir sie so lange nicht vergessen. 

«Dann wollen wir Sie doch mal rasieren», meint Helena. Herr Göldi starrt sein Spiegelbild an. Was denkt er wohl? Was sieht er? 

Er lacht: «Schauen Sie mal da! Der da drüben. Der ist ja alt.» 

Wie es wohl wäre, einmal in Herrn Göldis Schuhen zu stehen und die Welt zu sehen, wie sein Gehirn sie ihm gestaltet? 


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