Ältere Frau öffnet Vorhang.

Es schneit in mir

Einsamkeit ist anders als Alleinsein. Einsamkeit kommt, ohne gerufen zu werden. Alleinsein hingegen ist oft freiwillig gewählt. Unsere Autorin beschreibt, wann die Einsamkeit sie besucht und welche Strategien ihr helfen, sie zu ertragen.

Zwei Monate nach dem Tod meiner Mutter fuhr ich für einige Wochen in mein Schreibhaus nach Italien. Ich kam an und fühlte mich gleich zu Hause, öffnete Läden und Fenster, heizte den Ofen ein, deckte das Bett auf. Das Häuschen wärmte sich auf, ich wärmte mich auf. Zeit, um zu kochen. Da fiel mir die kleine Schüssel, die meiner Mutter gehört hatte, aus der Hand, zerschellte in unzählige kleine Glasstücke. Das Leben meiner Mutter zerbrach vor meinen Augen.

In diesem Augenblick erfasste mich die Einsamkeit.

Ich weinte, wie kaum je zuvor. Ich war nicht nur allein, ich war verlassen, unverbunden, war plötzlich im eigenen Häuschen ein Mensch ohne Daheim. Ein Niemandskind ohne Eltern. Ich war zutiefst einsam. Selbst die steigende Wärme im Haus half mir nicht. Es schneit in mein Herz… wie komme ich heim, las ich später bei Rose Ausländer. 1

Zwiegespräch mit der Einsamkeit

Seither kenne ich die Einsamkeit, die mich an den Rändern der Tage besucht. Morgens, im Zwielicht, sitzt sie oft schon am Tisch, wenn ich mein Frühstück richte. Ach, sagt sie bedauernd, wieder allein? Und bevor ich antworten kann, fährt sie fort: Warum nur bist du so oft allein, mag dich denn niemand? In mir sträubt sich alles. Ja, ich bin oft allein, aber ich will es so. Das Schreiben verlangt es. Sie wiegt den Kopf zu meinen Gedanken, setzt sich etwas breiter hin. Ich aber entscheide mich, sie wegzuschicken. Ich hole mein Schreibheft, ich hole zwei Gedichtbände, schlage sie irgendwo auf, beginne ein Gedicht abzuschreiben, eines, das ich später vielleicht auswendig lerne, mir aufsage auf meinen Spaziergängen. So wie das Gedicht, das ich lernte nach dem Tod meiner Mutter. Vergänglichkeit du schönes Lichterspiel am Nachthimmel… 2

Die Einsamkeit ist blasser geworden, während ich blättere und lese. Als ich beginne, mir Gedichte laut vorzulesen, verschwindet sie. Nur um abends wieder zu kommen, beim Eindunkeln. Hallo, winkt sie vor dem Fenster, und ich sehe sie, auch wenn ich die Vorhänge ziehe. Sie ist da. Vielleicht sucht sie menschliche Nähe, vielleicht ist die Einsamkeit einsamer als ich.

Üben, die Einsamkeit zu ertragen

Ich weiss, dass ich nicht allein bin, dass ich Freundinnen habe, eine Lebensgefährtin, dass ich gehalten bin, auch wenn die Einsamkeit sich noch so sehr bemüht, mir einzureden, ich sei verlassen. An solchen Abenden hilft mir meine Gewissheit nichts. Doch noch habe ich die Wahl: Fernsehen? Radio hören? Jemanden anrufen? Oft entscheide ich, einfach auszuhalten, dass sie da draussen lauert. Ich schaue nicht hin, lasse mich auf kein Gespräch ein, versuche, mich abzulenken. Gelingt es mir, in einem Buch zu versinken, vergesse ich sie. Hebe ich nach einer Stunde den Kopf, ist sie weg. Ich übe mich darin, mit ihr zurechtzukommen, es könnte sein, dass ich nicht immer so gut gehalten bin wie jetzt.

Einsam, zweisam, gemeinsam. Ich kann mich einsam fühlen als einzelner Mensch, unverbunden mit anderen. Auch zu zweit kann sich die Einsamkeit einschleichen, dann, wenn ich mich nicht verstanden, nicht wahrgenommen fühle. Und erst recht in Gemeinschaft. Sieht mich jemand? Bin ich überhaupt anwesend? Soll ich bleiben, weggehen?  Spricht mich niemand an, drücke ich mich verlegen in die düstersten Ecken. Spricht mich jemand an, weiss ich nichts zu sagen. Nein, oft geschieht mir das nicht mehr, aber es geschieht. Einsamkeit als Gefühl des Verloren-Seins, des Unverbunden-Seins, des Nicht-dazu-Gehörens. Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr / wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben. 3

Sonntagsgruss gegen Einsamkeit

Alleinsein ist ein Zustand, der nicht zwingend Einsamkeit bedeutet. Einsamkeit sei, so lese ich im Internet, eine nicht unbedingt objektive soziale Isolation. Das erlebt meine ehemalige Nachbarin. Sie lud mich an ihren Geburtstag ein, ich sass in der Runde mit gut zehn anderen Menschen und freute mich. Keine Spur von Alleinsein oder Einsamkeit, dachte ich. Bis zehn Tage später ihr Brief kam mit dem Titel: Ein verzweifelter Hilferuf. Sie sei einsam, schrieb sie. Sie bitte nun sieben Menschen, ihr regelmässig zu schreiben. Mir teilte sie den Sonntag zu.

Zunächst war ich irritiert. Was wurde da von mir verlangt? Zuwendung per Auftrag? Dann überlegte ich mir, dass ein wöchentliches Mail oder SMS nicht allzu viel verlangt ist. Seither schicke ich ihr jeweils einen Sonntagsgruss. Ab und zu antwortet sie. Erstaunlicherweise führen diese Auftragsmails dazu, dass ich öfters an sie denke.

Ist es möglich, die eigene Einstellung zu verändern? Einsamkeit ist nicht einfach da. Ich habe durchaus mitzureden, wie viel Platz ich ihr einräume, kann lernen, sie in ihre Schranken zu weisen, sie nicht zu beachten. Ich kann ihr einen Brief schreiben, eine hilfreiche Methode, um mit unerwünschten Gefühlen umzugehen. Denn Einsamkeit ist ein Gefühl, Alleinsein hingegen ein Zustand. Einsamkeit findet im eigenen Kopf statt. Und deshalb liegt es an mir, sie wegzuschicken. Oder auszuhalten, dass sie ab und zu da ist, dass es hin und wieder schneit in mir.


1     Rose Ausländer: Winter V, in: Gedichte, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. Main, 2001

2         Marie Luise Kaschnitz: Ein Wort, in: Kein Zauberspruch, Gedichte, Suhrkamp, Frankfurt a. Main, 1986

3         Rainer Maria Rilke: Herbsttag, in: Gesammelte Gedichte, Insel Verlag, Frankfurt a. Main, 1962


Zur Person

Esther Spinner (*1948) absolvierte eine Ausbildung zur Krankenschwester und später zur Lehrerin für Krankenpflege. Sie arbeitete freiberuflich als Kursleiterin für Schreibkurse und lebt als Schriftstellerin in Zürich. Neben ihren Büchern hat sie Beiträge für Anthologien, Zeitschriften, Zeitungen und für das Radio verfasst. Ihr neues Buch Mit Hund und Wort erscheint im Herbst 2024 bei der Edition 8.

Portraitfoto der Autorin Esther Spinner
Esther Spinner (Foto: Katrin Simonett)

Titelbild: AdobeStock


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