Eine Fachfrau der Pflege hilft einer älteren gehbehinderten Frau

Für mich ist es eine Herzensangelegenheit, mich für eine sehr verletzliche Patientengruppe zu engagieren

Katharina Fierz, Leiterin des Instituts für Pflege, interviewt die Masterabsolventin Raffaela zu ihrer Arbeit mit älteren Menschen in einem Akutspital und dem Thema ihrer Masterarbeit: Wie kann das Fünf-Schritte-Modell der Serial-Trial-Intervention helfen, bei Menschen mit Demenz, die ablehnende Verhaltenssymptome zeigen, besser zu reagieren.

KF: Raffaela – du bist Pflegefachfrau und arbeitest als Pflegeexpertin auf der Alterstraumatologie. Ganz zuerst: Was findest du erfüllend an deinem Beruf? 

R.I.: Ich finde es erfüllend, dass ich jeden Tag mit verschiedenen Menschen zu tun habe. Es ist ein sehr kommunikativer Beruf. Ich finde, das macht ihn sehr spannend. Durch die verschiedenen Fachbereiche ist die Pflege als Beruf sehr facetten- und abwechslungsreich, man kann immer Neues lernen. Man arbeitet mit Menschen, mit ihren Angehörigen. Wir sind auf der medizinischen Seite unterwegs, aber auch auf der psychologischen. Wir haben einen interdisziplinären Rahmen. Pflege ist etwas, das einem sehr begeistern kann. Was mir auch sehr gut gefällt an meiner Rolle ist, dass ich neue Ideen in der Praxis umsetzen kann.

KF: Als Abschlussarbeit deines MAS in „Gerontologischer Pflege“ hast du ein Praxisentwicklungsprojekt zu einem speziellen Thema verfasst: Kannst du uns etwas über dieses Projekt und deine Masterarbeit erzählen? 

R.I.: IIch bin Pflegeexpertin und habe ein Projekt entwickelt, um die Betreuung von Menschen mit Demenz im Akutspital zu verbessern. Während meinem Studium habe ich viel neues Wissen erworben und im Verlauf dann festgestellt, dass auf den chirurgischen Bettenstationen in Bezug auf gerontologisches Know-how noch Wissenslücken vorhanden waren. Fehlendes Wissen zu den besonderen Bedürfnissen von älteren Menschen kann unter Umständen zu einer Fehlbehandlung führen.
An meinem Arbeitsort sind wir auf dem Weg zu einem demenzfreundlichen Spital. Das ist in einem Akutspital, in dem es aufgrund akuter Situationen oft hektisch und laut ist, nicht immer ganz einfach. Menschen mit Demenz werden durch die Hektik und die vielen, raschen Veränderungen in ihrer Umgebung verunsichert und oft unruhig.

Für mich ist es eine Herzensangelegenheit, mich für eine sehr verletzliche Patientengruppe zu engagieren. Ich möchte dazu beizutragen, dass – trotz der Schnelllebigkeit im Akutspital – hochbetagte Menschen, die kognitiv, körperlich und funktionell eingeschränkt sind, eine möglichst gute und personenzentrierte Betreuung erhalten.  

KF: Wie hast du das Projekt entwickelt? 

R.I.: In der Praxis habe ich festgestellt, dass in Situationen, in denen Menschen mit Demenz herausfordernde Verhaltensweisen zeigen, relativ schnell zu Psychopharmaka gegriffen wird, anstatt die zugrunde liegenden Bedürfnisse der Patient:innen zu erkennen und diese anzugehen. Im Studium habe ich gelernt, dass der Griff zu Psychopharmaka, ohne vorher nicht-medikamentöse Optionen geprüft zu haben, nicht den Best Practice Empfehlungen entspricht.
Das hat mich sehr beschäftigt. Gleichzeitig habe ich die „Serial Trial Intervention“ (s. Infobox) kennengelernt, mit der ich mich mit Begeisterung vertiefter auseinandergesetzt habe. Und plötzlich war das Thema für die Abschlussarbeit klar: Ich wollte den Pflegefachpersonen im Akutspital alternative Möglichkeiten für den Umgang mit ablehnendem und herausforderndem Verhalten bei Menschen mit Demenz anbieten. Die Serial Trial Intervention gab mir ein fünfstufiges Modell in die Hand, mit dem ich arbeiten konnte. Sie bietet einen systematischen Handlungsansatz, mit dem sich die Ursachen für Verhaltenssymptome bei Menschen mit Demenz erkennen und behandeln lassen. Der erste Schritt besteht darin, mit einem körperlichen Assessment Bedürfnisse wie z.B. Schmerzen, Harndrang oder Bewegungsdrang zu erkennen und zu behandeln.

KF: Das klingt nach einem sehr individuellen Ansatz. Wie hast du das Projekt im Spital umgesetzt? 

R.I.: Zuerst habe ich eine Projektgruppe zusammengestellt und wir haben gemeinsam einen Praxisleitfaden und einen Schulungsfilm erstellt. Das Ziel war es, die „Serial Trial Intervention“ bekannt zu machen und Grundlagen für weitere Schulungen zu erarbeiten. Die Pflegefachpersonen sollten dadurch auf die Bedürfnisse von Menschen mit Demenz sensibilisiert werden und Ideen bekommen, wie sich im Akutspital die Umgebung so einrichten lässt, dass sie Menschen mit Demenz entgegenkommt.

KF: Das ist grossartig. Wie hast du die Ergebnisse gemessen? 

R.I.: Seit Projektbeginn involviere ich mich als Pflegeexpertin in Situationen, in denen Menschen mit Demenz herausforderndes Verhalten zeigen und berate die Pflegefachpersonen. Ich konnte beobachten, dass die Menge der Psychopharmaka, die den Patient:innen verabreicht werden, gesunken ist und vor allem wurden die psychosozialen, pflegerischen Massnahmen, welche getroffen wurden, als effektiv beschrieben. Wir haben auch festgestellt, dass die Schmerztherapie mehr in den Fokus gerückt ist.

KF: Das klingt nach einem sehr erfolgreichen Projekt. Was waren die Herausforderungen, die du erlebt hast? 

R.I.: Eine der grössten Herausforderungen ist die Fluktuation der Mitarbeitenden. Wir haben uns sehr bemüht, die Pflegefachpersonen zu schulen und zu coachen, aber wenn wir eine hohe Fluktuation haben, fangen wir alle zwei Jahre wieder von vorne an. Das ist eine Herausforderung, mit der alle Pflegeexpert:innen oder Fachverantwortlichen in der Praxis zu kämpfen haben. Aber wir haben auch gemerkt, dass wir Multiplikator:innen im ganzen Haus haben, die ihr Wissen weitergeben. Schlussendlich liegt hinter der Serial Trial Intervention eine personenzentrierte Haltung, welche von den Teams gemeinsam gelebt werden muss. Für die Begleitung und Betreuung von Menschen mit Demenz gibt es einfach keine fertigen Lösungen, man muss immer wieder neue, kreative Wege suchen.

KF: Wie hast du gegenüber deinen Vorgesetzten für das Projekt argumentiert? 

R.I.: Ich habe zum Glück Vorgesetzte, die davon überzeugt sind, dass ein wichtiger Teil der Praxisentwicklung auf den Bettenstationen stattfinden soll. Es ist wichtig, dass wir eine gemeinsame Haltung entwickeln können. Bei der Evaluation des Projekts wurden nicht nur die patientenbezogenen Outcomes, sondern auch die Mitarbeiter:innen-Outcomes einbezogen. Uns war es wichtig, dass die Kolleg:innen in herausfordernden Situationen auf die Unterstützung von Fachverantwortlichen und Pflegeexpertinnen zählen konnten. Mir ist die Begegnung mit meinen Kolleg:innen auf Augenhöhe ein zentrales Anliegen. Hierzu gehört, anzuerkennen, dass Situationen herausfordernd sein können und dass man nicht alles allein bewerkstelligen muss.

KF: Ich glaube, Pflegende haben in Bezug auf ihre Arbeit einen sehr hohen Anspruch an sich, sie machen oft Unmögliches möglich.  

R.I.: Ja, ich glaube das ebenfalls. Pflegen ist in meinen Augen eine Kunst. Die Kolleg:innen möchten alles in der vorgegebenen Zeit schaffen, allen Patient:Innen gleichermassen gerecht werden. Das ist manchmal einfach nicht möglich. Wir haben politische sowie ökonomische Grenzen. Ich glaube, die Zukunft wird nicht einfacher – ehrlich gesagt.

KF: Die Kolleg:innen des ärztlichen Dienstes haben bestimmt auch gemerkt, dass weniger Psychopharmaka, dafür eher Schmerzmedikamente verwendet wurden? 

R.I.: Ich arbeite sehr eng mit den klinischen Fachspezialist:innen im Bereich Traumatologie zusammen. Wir thematisieren die Vorgehensweisen immer wieder auf den Visiten. Sie merken auch, dass unser Vorgehen sich positiv auf die Situation auswirkt, und wenden es ebenfalls an. Natürlich setzten wir eine Dauermedikation mit Psychopharmka bei Eintritt ins Spital nicht ab oder sind dogmatisch gegen die Gabe von Psychopharmaka – es geht ja vielmehr um eine reflektierte und zielgerichtete Symptombehandlung. Der Ansatz „nicht-medikamentös vor medikamentös“ hat nicht zu mehr Problemen geführt – im Gegenteil. Wir bekommen Situationen mit dem Ansatz er Serial Trial Intervention genauso gut, wenn nicht besser, in den Griff als mit Psychopharmaka. Das Bewusstsein ist da, dass es vor der Abgabe von Psychopharmaka andere Möglichkeiten gibt, eine Situation zu beruhigen.

KF: Was meinen die Angehörigen zu deinem Projekt und zur Serial-Trial-Intervention? Was für ein Feedback bekommst du?  

R.I.: (überlegt lange) Für mich haben die ersten zwei Schritte, die wir ja personenzentriert machen, indem wir die Bedürfnisse von Patient:innen erkennen und diesen gerecht werden, grosse Relevanz. Diese zwei Schritte sind auch für die Angehörigen und die Pflegefachpersonen in der Langzeitinstitution zentral. Das bedeutet, dass wir von Angehörigen und von vorbetreuenden Kolleg:innen erfahren möchten, was für ein Mensch da vor uns steht. Angehörige sind eine riesige Ressource, die uns helfen, Menschen mit Demenz besser zu verstehen. Das Ziel ist, dass wir im Spital vom ersten Tag an mit den Angehörigen respektive mit den Pflegeinstitutionen Kontakt haben. Dabei erlebe ich, dass sie sehr gerne Auskunft geben. Sie freuen sich auch sehr, wenn sich jemand dafür interessiert, wie es zu Hause ist, was für Auslöser es für Verhaltenssymptome gibt und was für Strategien etabliert sind – Was hilft? Und was nicht? Das sind enorm wichtige Informationen für den ganzen Behandlungs- und Pflegeprozess.

KF: Gibt es Angehörige, die kommen und fragen, wieso die Grossmutter keine Psychopharmaka mehr bekommt?  

R.I.: Das habe ich bisher noch nicht erlebt. Hier muss ich auch erneut erwähnen, dass wenn jemand schon vorgehend Psychopharmaka bekam und sich die Therapie bewährt hat, wir die Behandlung selbstverständlich nicht stoppen. Wir sollten nicht eine Behandlung abbrechen, wenn sie notwendig ist.

KF: So ein Projekt kann ja auch entlasten. Es braucht zwar eine Investition am Anfang und du hast einen Initialaufwand…  

R.I.: …man braucht Ressourcen, das muss allen klar sein. Wenn wir die Umsetzung dann aber schaffen, können wir Ruhe in eine Situation bringen und proaktiv arbeiten. Mit meinem Projekt ist die Entwicklung noch lange nicht abgeschlossen! Ich sehe noch einen grossen Bedarf, z.B. die Implementierung und Verwendung von evidenzbasierten Assessmentinstrumenten, die viel Klarheit und Vergleichbarkeit bringen können. Man braucht Instrumente, aber ganz besonders braucht es Pflegefachpersonen, die die Zeit und Fähigkeiten haben, dieser vulnerablen Patientengruppe zu unterstützen. Wenn man in einer extremen Situation ist – ein Spitalaufenthalt ist das in vielen Fällen – braucht es eine menschliche Betreuung. Ohne Zeit und Beziehung geht das nicht!

KF: Wenn das nicht ein schönes Schlusswort ist. Danke, Raffaela, für das spannende Gespräch! 


Infobox Raffaela

R.I. ist diplomierte Pflegefachfrau und hat von 2012 bis 2015 an der Fachhochschule St. Gallen den Bachelor Pflege absolviert. Danach hat sie direkt als diplomierte Pflegefachfrau auf einer interdisziplinären chirurgischen Bettenstation am Kantonsspital Winterthur (KSW) angefangen zu arbeiten und viel Erfahrung in den unterschiedlichen Gebieten gesammelt. Nach ein paar Jahren hat sie eine fachverantwortliche Funktion übernehmen können. Dort hat sie die erste Erfahrung mit Fach- und Prozessführungsthemen gesammelt. 

Ihre Vorgesetzten haben sie sehr darin unterstützt, den Master in gerontologischer Pflege zu absolvieren, den sie 2023 abgeschlossen hat. In diesem Kontext hat sie eine Pflegeexpertinnen-Stelle mit einer APN-Rolle auf der Alterstraumatologie aufgebaut. Dadurch konnte sich das KSW gleichzeitig als Alterstraumatologie etablieren und zertifizieren lassen.  

2025 schrieb sie einen Artikel über das Thema «Harninkontinenz im Alter» für die Zeitschrift «Urologie der Praxis» – ein sehr schambehaftetes Thema. Dabei geht es um die Diskrepanz zwischen Überversorgung und Unterversorgung. Das Ziel ist es, darzulegen, dass Harninkontinenz nicht einfach etwas ist, das man im Alter hinnehmen muss. 


Infobox  Serial-Trial-Intervention

Serial-Trial-Intervention ist eine Empfehlung und beinhaltet ein fünfschrittiges Vorgehen:

Man geht davon aus, dass Menschen mit Demenz Verhaltenssymptome zeigen, weil sie Bedürfnisse haben, die im Moment nicht erfüllt sind und sie aufgrund der Demenz nicht adäquat kommunizieren können. Diese Bedürfnisse gilt es zu erkennen und diesen entgegenzukommen.

Der erste Schritt besteht aus einer körperlichen Einschätzung, mit dem Ziel, körperliche Bedürfnisse wahrzunehmen. Das heisst, wenn ich sehe, dass jemand sehr unruhig ist und aufstehen will, kläre ich zuerst ab, ob die Person Schmerzen hat. Schmerzen sind einer der wichtigsten Gründe für Unruhe im Akutspital. Weitere typische körperliche Bedürfnisse sind Harndrang oder Bewegungsdrang.
Im zweiten Schritt schaue ich, ob es psychische Bedürfnisse gibt, ob die Person Nähe, Schutz oder Beschäftigung braucht oder eher Ruhe und Stressverminderung. Ich überprüfe die Umgebung, ob es zu laut ist, ob es zu hell ist. Als Person in diesem Kontext bin ich auch ein potenzieller Störfaktor, der zu den Symptomen beiträgt. Diese Überlegungen gilt es zu machen.
Im dritten Schritt gilt es, nicht-medikamentöse Massnahmen zu prüfen, wie Aromapflege, Deeskalationsmassnahmen, Kommunikation. Das sind wichtige Maßnahmen.
Deeskalativ ist auch, einen Schritt zurückzumachen, weniger reden, weniger Reize setzen, Türe zumachen, Lärmemissionen möglichst verringern.
Im vierten Schritt wird nochmals die Schmerzsituation überprüft.
Als letzte Massnahme – wenn Schritte 1-4 nicht zu einer Verbesserung der Situation geführt haben, erst dann setze ich Psychopharmaka als Reservemedikation ein.

Detailliertere Version mit Abbildung und Quelle (PDF)


Infobox „Demenzsensibel Unterwegs“

Demenziell erkrankte Menschen im Akutspital zählen zu den besonders vulnerablen Patient:innen (SAMW, 2018). Betroffene benötigen eine kompetente und personenzentrierte Pflege. Vier Leitgedanken prägten das Aktionsjahr 2023:

  • Patient:innen mit einer Demenz frühzeitig erkennen und ihre Risiken erfassen
  • Patient:innen mit einer Demenz erfahren eine personenzentrierte interprofessionelle Behandlung, Pflege und Betreuung
  • Gesundheitsfachpersonen sind sensibilisiert und befähigt, Betroffene achtsam und kompetent zu betreuen und zu behandeln
  • Interprofessionelles Zusammenarbeiten im Spital, mit Angehörigen sowie vor- und nachsorgende Gesundheitsakteur:innen.

Das am KSW erstellte Konzept wurde über das ganze 2023 etappenweise umgesetzt.  
Mit verschiedenen Aktionen in der Praxis sollte das Wissen und Handeln verbessert und die Haltung reflektiert werden auf dem Weg zum demenzsensiblen KSW. 

Kantonsspital Winterthur (KSW). (2021a). Konzept / Richtlinie. Pflege und Betreuung von Patientinnen und Patienten mit einer demenziellen Erkrankung. [Unveröffentlichtes Dokument].


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