Das neue Age-Dossier der Age-Stiftung beleuchtet praxisnah, was ältere Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen wirklich brauchen. Silvan Wittwer spricht über inspirierende Porträts, die zeigen, wie Betreuung Lebensqualität und Selbstbestimmung sichert – und wo noch dringender Handlungsbedarf besteht.
Die Betreuung im Alter – in Abgrenzung zur Hilfe und Pflege – steht im Brennpunkt aktueller sozialpolitischer Debatten. In letzter Zeit sind einige theoretische Grundlagen erarbeitet worden.[1] Das neue Age Dossier legt vor diesem Hintergrund nun den Fokus auf die Praxis und die Lebenswelt älterer Menschen. Wie kommt es dazu? Kannst du mehr dazu sagen?
Die politische Debatte über Betreuung im Alter nimmt Fahrt auf, wie der jüngste Beschluss des Nationalrats zeigt. Doch oft wird die Perspektive der älteren Menschen vernachlässigt. Das neue Age-Dossier setzt hier an: Es rückt die Bedürfnisse und Erfahrungen von Betroffenen und ihren Angehörigen in den Mittelpunkt. Es porträtiert Angebote und Menschen aus verschiedenen Betreuungsphasen und Lebenssituationen, eingebettet in Grundlagen, eine Synthese und die Einordnung der Age-Stiftung. Zudem bieten wir erstmals zwei Videostorys, die einen direkten Einblick in die Lebenswelten älterer Menschen geben.
Die Porträts machen deutlich, dass ältere Menschen selten den Begriff der «Betreuung» verwenden. Stattdessen beschreiben sie konkrete Aktivitäten wie Ausflüge oder Gespräche, die ihr Wohlbefinden und das Gefühl von Zugehörigkeit oder Sicherheit fördern. Für sie ist eine Beziehung auf Augenhöhe entscheidend, in der sie als vollwertige Personen wahrgenommen werden. Was sie suchen, ist also ein unterstützendes Miteinander – eben ein «Mitenand» und «Fürenand», wie es der Titel des Age-Dossiers sagt.

Gibt es ein Porträt, das dich besonders berührt hat und den Wert von Betreuung deutlich macht?
Alle sieben Porträts im Magazin und die zwei Videostorys auf unserer Webseite haben mich auf die eine oder andere Weise berührt. Besonders nachgehallt haben aber die drei Porträts von Betroffenen und Angehörigen, die ihre Erfahrungen mit Betreuung im Hospiz Schönbühl in Schaffhausen teilten. Sie unterstreichen die ausserordentliche Verletzlichkeit von Menschen am Lebensende – und wie wertvoll Betreuung gerade dann sein kann. Denn Betreuung trägt bei zu Lebensqualität, Selbstbestimmung und Würde bis zuletzt.
Umso erstaunlicher ist es, dass die Finanzierung von Palliative Care in der Schweiz noch immer nicht geklärt ist. Das Beispiel Hospiz Schönbühl zeigt, dass ein Grossteil der Patient:innen die gesamten Kosten für ihren Aufenthalt nicht selbst tragen können und auf Spenden angewiesen sind. Hier besteht weiterhin dringender Handlungsbedarf, damit wir ein würdevolles Lebensende für alle ermöglichen. Um es mit den Worten einer Patientin im Hospiz Schönbühl zu sagen: «Wir sollten besser für Menschen am Lebensende sorgen. Gerade dann hast du es verdient, gut behandelt zu werden.» Es ist deshalb entscheidend, dass der Bundesrat und das Parlament ihre jeweiligen Handlungsinstrumente zur angemessenen Finanzierung der Palliative Care bedarfsgerecht einsetzen.

Im Dossier wird auch darauf hingewiesen, dass eine lückenlose Betreuung im Alter noch nicht gewährleistet ist. Könntest du eines der porträtierten Angebote auswählen, welches als Vorbild dienen könnte, um eine Lücke zu schliessen?
Tatsächlich fehlt der Schweiz eine gänzlich bedürfnisgerechte, breit zugängliche und lückenlose Betreuung im Alter. Alle vier porträtierten Angebote sind eher Ausnahmen als die Regel, veranschaulichen Aspekte «guter Praxis» und taugen als Vorbilder. Müsste ich ein Angebot hervorheben, wäre es Vicino Luzern. Sein Herzstück sind niederschwellige Quartiertreffs an fünf Standorten in der Stadt Luzern. Das kostenlose Grundangebot bietet älteren Menschen Begegnungs- sowie Informationsmöglichkeiten und vermittelt Dienstleistungen für das selbstständige Wohnen. Eine Standortkoordinatorin fungiert als Ansprechperson. Vicino Luzern schliesst damit zwei Lücken: es macht auf bestehende Unterstützungsangebote aufmerksam und vernetzt rund fünfzig Organisationen aus dem Sozial-, Gesundheits- und Wohnbereich sowie dem lokalen Gewerbe. Unsere Textporträts und Videostory zeigen eindrucksvoll, wie positiv die älteren Nutzenden das Angebot wahrnehmen. Ein Ehepaar schildert beispielsweise, wie das Vicino ihnen hilft, trotz Demenzdiagnose des Ehemanns weiterhin selbstständig zu Hause zu leben. Vicino Luzern demonstriert so, wie man das «Mitenand» und «Fürenand» guter Betreuung erfolgreich umsetzt.
Zur Person
Silvan Wittwer ist Projektleiter Public Affairs der Age-Stiftung, wo er unter anderem das Age-Dossier sowie den Age Report verantwortet. In seinem Geschäftsfeld analysiert er aktuelle Trends rund ums Älterwerden, entwickelt Grundlagen und setzt sich für bessere Rahmenbedingungen zugunsten von älteren Menschen ein.
Links auf Age-Dossier und Videostorys
- Age-Dossier 2025: www.age-stiftung.ch/age-dossier2025
- Videostory Vicino Luzern: www.age-stiftung.ch/age-dossier2025/vicino
- Videostory Hospiz Schönbühl: www.age-stiftung.ch/age-dossier2025/schoenbuehl
Interview: Dieter Sulzer, Mitglied im Kernteam von AGe+ und Fachreferent für Angewandte Gerontologie an der ZHAW Hochschulbibliothek.
Titelbild: © Age-Stiftung, Foto: zVg Senioren- und Gesundheitszentrum Ursern
[1] Eine Definition formulieren Peter Stettler et al.: «Betreuung im Alter unterstützt ältere Menschen, ihren Alltag weitgehend selbstbestimmt zu gestalten und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, wenn sie das aufgrund der Lebenssituation und physischer, psychischer oder kognitiver Beeinträchtigung nicht mehr gemäss ihren Vorstellungen selbstständig können.» (Betreuung im Alter – Bedarf, Angebote und integrative Betreuungsmodelle. Bern: BSV, 2023, S. 5f.) Weitere theoretische Grundlagen sind auf der Webseite gutaltern.ch zusammengestellt: Gute Betreuung im Alter – Definitionen.