Soll man alte Bäume verpflanzen? Soll man im Alter umziehen? Unsere Autorin plädiert dafür. Umziehen ist anregend, aufregend und somit belebend. Und im besten Fall erleichtert ein Umzug das Leben.
Einen alten Baum verpflanzt man nicht, heisst die Redensart. Und doch ziehen viele alte Menschen um. Den einen ist die Wohnung zu gross geworden, den andern das Einfamilienhaus zu leer, wieder andere brauchen mehr Unterstützung in ihrer Umgebung. Aus diesem Grund ist meine älteste Schwester mit ihrem schwerkranken Mann umgezogen, allerdings gegen seinen Willen. Er konnte sich kaum trennen von der liebgewonnen Wohnung, von Hemden, die ihn seit 20 oder 30 Jahren begleiten und ihm viel zu gross geworden sind. Jetzt, in der Wohnung, die dem Alterszentrum angeschlossen ist, fühlt sich immerhin meine Schwester entlastet. Tag und Nacht wird auf die Glocke reagiert, und mag sie nicht kochen, ist die Cafeteria leicht erreichbar. Ein Umzug, um es leichter zu haben im Alter.
Aus einem anderen Grund zog meine mittlere Schwester um. Das gemietete Haus mit zwei 3-Zimmer-Wohnungen sollte verkauft und voraussichtlich abgerissen werden. Sie trauert dem grossen Garten nicht nach, ihr Mann aber vermisst alle Kellerräume, Nebenräume und die Garage. Er sei ein Messie, sagt sie, er könne nichts loslassen. Jetzt, im Reiheneinfamilienhaus auf einem Stockwerk, muss sie weniger Treppensteigen, und der Garten ist klein, ein grosszügiger Sitzplatz. Auch sie hat es nun leichter. Wohin ihr Mann alle seine Dinge geräumt hat, weiss ich nicht.
Sich verkleinern und loslassen
Ich bin die jüngste der drei Schwestern, und werde ebenfalls umziehen. Schnell und unerwartet fiel der Entscheid für die 3-Zimmer-Wohnung in der Siedlung, in der meine Lebensgefährtin und ich in getrennten Wohnungen leben. Aufs Alter zusammenziehen? Warum nicht. Wir diskutierten diese Frage von Zeit zu Zeit. Als dann aber die Möglichkeit in Reichweite lag, tat ich mich schwer. Jetzt? Warum nicht noch warten? Es geht doch gut so. Dann aber dachte ich an meine Schwestern. Beide hatten den Umzug gewagt. Und ich dachte daran, dass ich schon immer eine Umzieherin war. ich kann gar nicht zählen, wie oft ich in meinem Leben umgezogen bin. Als ich noch in Wohngemeinschaften lebte, war das Umziehen jeweils mehr ein Fest als Arbeit. Mit Hilfe von Freundinnen trugen wir den kleinen Hausrat treppab und treppauf, danach assen wir gemeinsam. Als erfahrene Wohnungswechslerin sollte mir das Umziehen nicht schwer fallen. Dass wir in der Siedlung bleiben können, in der wir schon lange wohnen – natürlich nicht ohne Umzüge – , ist ein Geschenk.
Zunehmend freue ich mich auf alles Neue, das auf mich zukommt. Aber ich muss mich verkleinern, muss loslassen. Jetzt habe ich einen grosszügigen Arbeitsraum mit zwei Pulten, einigen Beistelltischen, einem Servierboy, alles mit Zetteln und Büchern belegt. Rundherum die vollen Büchergestelle. Ich wäge jedes Buch in der Hand und entscheide mich fürs Behalten oder dafür, das Buch in einen Sack zu stecken fürs Brockenhaus. Ich bedanke mich bei den Büchern, die ich weggeben will, danke ihnen für ihre Begleitung, oft über Jahre, dafür, dass sie mich unterhalten, belehrt, erfreut haben. Es scheint der richtige Augenblick zu sein, das Loslassen fällt mir leicht.
Verbindung mit einer unbekannten Welt
Bis ich zu den Bilderbüchern komme. Ich sitze am Boden und blättere, verweile bei den Bildern, den kurzen Texten. Drei Bücher stammen aus der Kindheit, sie sind wichtig, aber ebenso wichtig sind die später hinzugekommenen: Die beiden indischen Bücher Das Geheimnis der Bäume und Wasserwelten, deren Bilder in einer ganz besonderen Technik gemalt und gedruckt wurden. Baobab macht es möglich, dass wir in der Schweiz Bilderbücher, Kinderbücher und Jugendromane aus Afrika, Asien, Lateinamerika und vielen anderen weit entfernten Ländern lesen und betrachten können. Die Bücher berühren mich auf besondere Weise, sie verbinden mich mit einer mir unbekannten Welt. Auch andere Bilderbücher haben diese Kraft, auch sie verbinden mich mit Unbekanntem, zum Beispiel mit der Welt des Todes. In Ente, Tod und Tulpe begleitet der kleingewachsene Tod in kariertem Rock die Ente, die bald sterben wird. Sie freunden sich an in der Zeit, in der sie gemeinsam warten. Einmal, als der Tod fröstelt, bietet ihm die Ente an, ihn zu wärmen. Der Tod ist gerührt. Nach einiger Zeit stirbt die Ente. Der Tod legt sie aufs Wasser eines Flusses, gibt ihr als Begleitung eine Tulpe mit. Sanft reisen die beiden ins Unbekannte.
In Ophelias Schattentheater leitet die alte Ophelia ein Schattentheater. Sie, die viele viele Jahre lang am Theater souffliert hatte, kannte alle Komödien, Tragödien und anderen Stücke auswendig. Als das Theater schliesst, kommen die menschenlosen Schatten zu ihr. Sie reist mit ihnen durch die Welt bis zu ihrem Tod. Als sie in den Himmel kommt, leuchtet dort eine Lichtbühne, auf der sie nun mit den Engeln spielen wird.
Bilderbücher bleiben
Als ich blätternd und lesend am Boden sitze, blitzt eine Erinnerung auf. Herr Gerber führte einen Milchladen, in den ich als Kind mit dem Milchkesseli geschickt wurde. Mit einem Litermass schöpfte er die Milch aus einer hohen Kanne, mit einem grossen Messer schnitt er den Käse ab. Eines Tages entdeckte ich ein Buch auf dem Tresen, das ich kannte, wir hatten das selbe Buch zu Hause. Aschenbrödel stand auf dem rosa-weissen Umschlag. Lesen sie das, fragte ich neugierig, und er nickte. Mir gefällt die Geschichte, murmelte er verlegen. Ich verkniff mir das Lachen, bis ich draussen war. Was wollte ein grauhaariger, leicht gebückter Mann mit Märchenbüchern anfangen? Meine Schwestern und ich machten uns einen Spass daraus, herauszufinden, wie oft er das Buch wechselte. Er schien uns sehr, sehr alt und sehr, sehr seltsam.
Heute bewundere ich seinen Mut. Ich bin Herr Gerber nahe gerückt, stelle entschieden die Bilderbücher ins Regal zurück. Sie bleiben bei mir, bis der Tod eine Tulpe neben mich legt.
Erwähnte Literatur
- Bhajju Shyam, Durga Bai, Ram Singh Urveti: Das Geheimnis der Bäume, www.baobab.ch, 2006
- Rambharos Jha: Wasserwelten, www.baobab.ch, 2011
- Wolf Erlbruch: Ente, Tod und Tulpe, Antje Kunstmann Verlag, München 2007
- Michael Ende (Text), Friedrich Hechelmann (Bilder) : Ophelias Schattentheater, Thienemann, Stuttgart, Wien 1988
Esther Spinner (*1948) absolvierte eine Ausbildung zur Krankenschwester und später zur Lehrerin für Krankenpflege. Sie arbeitete freiberuflich als Kursleiterin für Schreibkurse und lebt als Schriftstellerin in Zürich. Neben ihren Büchern hat sie Beiträge für Anthologien, Zeitschriften, Zeitungen und für das Radio verfasst. Ihr neues Buch Mit Hund und Wort ist in der Edition 8 erschienen.
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