Einsamkeit geht weit über das Bild des vereinsamten alten Menschen hinaus. Wir befragten Professor André Fringer, was die Forschung herausgefunden hat.
Bei Einsamkeit denken die meisten an alte Menschen, welchen die Freund:innen weggestorben sind. Sie aber erforschen verschiedene Generationen. Warum?
Einsamkeit wird zunehmend als ernsthafte Erkrankung anerkannt und wird als «versteckte Pandemie» bezeichnet. Die Einrichtung eines eigenen Einsamkeitsministers in England unterstreicht die Dringlichkeit und gesellschaftliche Bedeutung des Problems.
Diese Anerkennung fehlt jedoch im deutschsprachigen Raum, wo Einsamkeit bislang kaum thematisiert wird. Angesichts der Tatsache, dass wir ein gut ausgebautes und teures Gesundheitssystem für die Akutversorgung haben, ist es erstaunlich, dass Einsamkeit als krankheitsrelevanter Faktor so wenig Beachtung findet. Das ist ähnlich wie bei anderen chronischen Krankheiten.
Einsamkeit betrifft alle Generationen und äussert sich vor allem in sozialer Isolation. So erleben Pflegefachpersonen im häuslichen Bereich, z.B. in der Spitex, die Einsamkeit ihrer Klientinnen und Klienten hautnah. Das Wissen, dass die betreute Person nach dem kurzen Besuch wieder allein sein wird, erzeugt seelischen Stress und kann langfristig zu emotionaler Erschöpfung führen. Einsamkeit bezeichnen wir in solchen Fällen als «ansteckend».
Auch betreuende und pflegende Angehörige, insbesondere Töchter oder Söhne, sind nicht frei von der Last der Einsamkeit. Selbst wenn ein soziales Netz und eine Familie vorhanden sind, führt die ungleiche Verteilung der Pflegeaufgaben häufig zu innerfamiliärer Ungerechtigkeit. Dies ist ein Aspekt der Einsamkeit, der oft übersehen wird.
Darüber hinaus sind auch Kinder und Jugendliche, die als «Young Carers» familiäre Pflegeverantwortung übernehmen, von Einsamkeit und sozialer Isolation betroffen. Hier wird deutlich, dass Einsamkeit sich über die gesamte Lebensspanne erstreckt und nicht nur eine Herausforderung des Alters ist. Einsamkeit ist ein generationenübergreifendes Problem, das in seiner Komplexität von unserer Gesellschaft noch nicht ausreichend thematisiert, weil nicht verstanden wird.
Ist die Balance zwischen erwünschtem Abstand und unerwünschter Isolation ein lebenslanges Thema? Sind deshalb selbst Generation Z und noch jüngere betroffen?
Die Balance zwischen erwünschter Distanz und unerwünschter Isolation begleitet uns eigentlich ein Leben lang. Zweifellos braucht der Mensch Momente der Stille und des Alleinseins, um sich zu regenerieren und die Eindrücke des Alltags zu verarbeiten. Als soziale Wesen sind wir aber auf Zugehörigkeit und Gemeinschaftssinn angewiesen. Ohne die Zuwendung anderer verkümmern wir emotional, denn wir brauchen Akzeptanz und Resonanz, um ein Gefühl der Ganzheit zu entwickeln. Dieses Bedürfnis nach Zugehörigkeit bleibt in jeder Lebensphase bestehen.
Gleichzeitig leben wir in einer Welt, die uns unzählige mediale Angebote zur Verfügung stellt, die unsere sozialen Bedürfnisse zu befriedigen scheinen. Die Plattformen, auf denen wir uns präsentieren, können aber auch eine inszenierte Wirklichkeit schaffen, die uns von authentischen Begegnungen entfremdet. Hier wird der Gedanke von Erving Goffman, der in seinem Buch «Wir alle spielen Theater» beschrieben hat, wie Menschen ihre sozialen Rollen inszenieren, auf beunruhigende Weise relevant. Vor allem die Generation Z und noch jüngere Menschen werden zunehmend von der digitalen Sphäre beeinflusst, in der sie ihre Identität formen, oft auf Kosten realer Beziehungen. Diese Diskrepanz zwischen Selbstdarstellung und Realität kann zu einem verstärkten Gefühl der Isolation führen, das in allen Generationen spürbar zunimmt.
Hinzu kommt der Wandel in der Arbeitswelt, der durch Telearbeit und die zunehmende Automatisierung von Prozessen durch künstliche Intelligenz (KI) gekennzeichnet ist. Während KI immense Erleichterungen im Arbeitsalltag verspricht, droht gleichzeitig ein Verlust an menschlicher Interaktion. Der zunehmende Dialog mit Maschinen statt mit Menschen könnte langfristig die Einsamkeit verstärken, da die für unser emotionales Wohlbefinden so wichtige zwischenmenschliche Kommunikation immer mehr in den Hintergrund rückt.
Es gibt bereits vielversprechende Entwicklungen, um einsame Menschen durch KI zu unterstützen. Doch auch wenn die Interaktion mit einer KI nahezu perfekt erscheinen mag, bleibt es eine «virtuelle Empathie», die die wechselseitige menschliche Interaktion nicht ersetzen kann. Einsame Menschen durch den Kontakt mit Maschinen «zufrieden zu stellen», wird das Problem eher verstärken. Der reale Austausch, die Ich-Du-Beziehung, lässt sich nicht virtuell nachbilden, denn das Wesen menschlicher Begegnungen liegt in der Unberechenbarkeit, Emotionalität und Authentizität des Gegenübers.
Einsamkeit, sagen Sie, ist eine Spirale, die meist nach unten zeigt. Was macht es so schwierig, aus der Einsamkeitsspirale auszusteigen?
Wie eine chronische Krankheit schleicht sich die Einsamkeit allmählich in das Leben der Betroffenen ein. Anfangs sind es nur kurze Momente des Alleinseins, die sich im Laufe der Zeit zu einer dauerhaften und schmerzhaften Isolation ausweiten können. Dies geschieht oft so subtil, dass der Übergang zur unerträglichen Einsamkeit kaum bemerkt wird. Der Weg in die Isolation erfolgt also nicht plötzlich, sondern kontinuierlich – bis sich der Betroffene in einer Situation befindet, aus der er ohne fremde Hilfe nur schwer wieder herausfindet.
Wer sozial isoliert ist, lebt in einer Art Blase, in der sich der Alltag und die eigenen Routinen ganz auf diese isolierte Existenz eingestellt haben. Das Tragische daran ist, dass diese Isolation zur «Normalität» wird. Über einen längeren Zeitraum, in dem keine oder nur wenige soziale Kontakte bestehen, wird das Gefühl der Einsamkeit zur alltäglichen Realität. Dies führt dazu, dass alles, was von aussen in diese Blase eindringt, zunächst als Störung empfunden wird. Selbst gut gemeinte Versuche, die Isolation zu durchbrechen, werden oft als Bedrohung der gewohnten, wenn auch belastenden Routine empfunden. Einsame Menschen brauchen deshalb dringend Unterstützung von aussen, um ihre Situation zu verändern, gleichzeitig stellt diese Veränderung aber auch eine Herausforderung dar, weil sie den gewohnten Rhythmus in Frage stellt.
Ein Beispiel aus der Spitex verdeutlicht dies. Stellen wir uns einen pflegebedürftigen Menschen vor, der von seiner Ehefrau betreut wird, während die Pflegefachpersonen der Spitex die medizinische Versorgung übernehmen. Diese Menschen haben oft viel Zeit, aber schon kleine Abweichungen von der Routine, wie z.B. das verspätete Eintreffen der Pflegenden, werden als schwerwiegende Störung empfunden. Es entsteht Unmut und oft auch Kritik, weil die «Normalität» des isolierten Daseins plötzlich gestört wird. Dies zeigt, wie fest die Einsamkeit im Alltag der Betroffenen verankert ist – und warum es so schwierig ist, diese Spirale zu durchbrechen. Veränderungen werden als Bedrohung empfunden, obwohl sie notwendig wären, um die Isolation zu überwinden.
Sie fordern, dass Gesundheitsfachleute auch Krisen-Expert:innen werden müssten. Sie sehen in einer Krise eben auch Chancen. Warum glauben Sie, dass Gesundheitsfachleute dafür geeignet sind? Welche der benötigten Ressourcen besitzen Gesundheitsfachleute?
Es ist wichtig, bei der Diskussion um Krisen in der Pflege zwischen zwei verschiedenen Formen zu unterscheiden. Zum einen gibt es die chronische Krise der Einsamkeit und sozialen Isolation, die insbesondere von den Fachpersonen der Spitex als grosse Herausforderung wahrgenommen wird. Diese Krisenform begleitet viele Menschen in der häuslichen Pflege kontinuierlich und stellt eine grosse Belastung dar.
Auf der anderen Seite gibt es akute Krisen, die durch den Krankheitsverlauf oder unvorhergesehene Ereignisse ausgelöst werden. Solche Krisen führen zu einer Unterbrechung des Alltags und der Normalität und zwingen die Betroffenen, medizinische und pflegerische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Hier liegt eine besondere Chance für die Gesundheitsberufe, denn diese Krisensituationen können als Wendepunkte genutzt werden, um eine neue Normalität zu etablieren.
In diesen akuten Krisenphasen sind Menschen offener für Veränderungen, da sie gezwungen sind, ihren Alltag neu zu arrangieren. Die Krise wirkt wie ein «Situationsöffner», in dem neue Angebote, Interventionen oder Hilfen initiiert werden können. Hat sich der Alltag jedoch wieder eingependelt, wird es oft schwieriger, Veränderungen herbeizuführen. Dies unterstreicht die Notwendigkeit, dass Gesundheitsfachleute solche Krisen als Chancen begreifen, in denen präventive und unterstützende Massnahmen umgesetzt werden können. In unserer Studie für das BAG im Rahmen des Projekts G04 «Unterstützung für pflegende Angehörige in Einstiegs-, Krisen- und Notfallsituationen» haben wir erkannt, wie wichtig es ist, Krisenphasen als strategische Momente der Entlastung und Prävention zu nutzen.
Gesundheitsfachpersonen, die täglich mit pflegenden Angehörigen und Betroffenen in Kontakt stehen, sind deshalb entscheidende Ressourcen für den Weg aus Krisensituationen. Ihr Wissen und ihre Erfahrung ermöglichen es nicht nur, die Situation der Betroffenen zu stabilisieren, sondern auch nachhaltige Hilfen und Lösungen anzubieten. Die Expertise dieser Fachkräfte – sei es im pflegerischen, medizinischen oder psychosozialen Bereich – ist in der Lage, den Betroffenen in den sensiblen Momenten der Krise neue Wege aufzuzeigen.
Um dies zu erreichen, muss das Gesundheitspersonal auf allen Ebenen sensibilisiert und geschult werden. Das Wissen um die Chancen, die in Krisen liegen, sollte Teil der Aus- und Weiterbildung sein. Die Aus- und Fortbildung von Gesundheitsfachkräften ist somit die wichtigste Ressource, um die präventiven Möglichkeiten in Krisensituationen voll auszuschöpfen.
Sie behaupten, dass die heutige Pflege eher eine Verrichtungspflege statt eine Beziehungspflege ist. Was meinen Sie mit Beziehungspflege und was hätte diese für eine Wirkung?
Beziehungspflege bedeutet, dass die Interaktion zwischen Pflegenden und Gepflegten nicht auf reine Verrichtungen reduziert wird, sondern den ganzen Menschen in den Mittelpunkt stellt. Pflege ist nicht nur das Erledigen von Verrichtungen wie Haare kämmen oder Verbände anlegen, sondern der Aufbau einer tiefen menschlichen Beziehung. In dieser Beziehung geht es um mehr als um die Ausführung von Pflegetätigkeiten. Sie zielt darauf ab, das Wohlbefinden der betreuten Personen zu fördern, indem die Pflegenden die Normalität und den Alltag der Betroffenen wiederherstellen.
Aktuelle internationale Daten zeigen, dass in etwa fünf Jahren weltweit 13 Millionen Pflegefachpersonen und Hausärzte fehlen werden – das entspricht der Bevölkerung eines Landes von der Grösse Portugals. Dieser Pflegenotstand ist unter anderem auf den ökonomischen Druck zurückzuführen, der auf dem Pflegesystem lastet. Weit verbreitet ist die Vorstellung, Pflege sei ein Kostenfaktor. Das ist aber ein Trugschluss: Pflege ist ein Leistungsfaktor, der nicht nur die direkte Versorgung der Menschen sicherstellt, sondern darüber hinaus einen präventiven und gesundheitsfördernden Beitrag leistet.
Nehmen wir als Beispiel das Kämmen der Haare. Auf den ersten Blick scheint dies eine einfache, technische Aufgabe zu sein. Dahinter steckt jedoch viel mehr: Pflegende sind in diesem Moment nicht nur für die körperliche Pflege zuständig, sondern sie schaffen durch ihre Anwesenheit und Zuwendung eine Beziehung, die das körperliche und emotionale Wohlbefinden der betroffenen Person beeinflusst. In dieser Beziehungspflege nehmen die Pflegenden eine ganzheitliche Einschätzung der aktuellen Lebenssituation vor, die für die Prävention von Komplikationen und die Stabilisierung des Alltags unerlässlich ist.
Diese Fähigkeiten sind nicht quantifizierbar, weil sie einen unschätzbaren Wert haben – sie verhindern Kosten und verbessern die Lebensqualität der betreuten Menschen.
Ein hochbezahlter Chefarzt kann durch eine erfolgreiche Operation eine schwere Krankheit beseitigen, aber die langfristige Genesung und der Heilungsprozess hängen entscheidend von der Pflege ab. Ohne eine kontinuierliche und individualisierte Pflege, die auf Beziehung und Prävention beruht, bleibt der langfristige Erfolg der medizinischen Intervention in Frage gestellt. Pflege ist daher kein Kostenfaktor, sondern ein zentraler Bestandteil des gesamten Gesundheitsprozesses, der die Brücke zwischen medizinischer Intervention und langfristigem Wohlbefinden schlägt.
Wir danken Ihnen für dieses Interview.
Interview: Nicole Baur
Zur Person
André Fringer ist Professor an der ZHAW im Master Gesundheit. Er ist Co-Leiter des Studiengangs MSc Pflege und Co-Leiter Forschung & Entwicklung Pflege. Sein Schwerpunkt liegt im Bereich «Familienzentrierte Pflege».
Studie
Studie für das BAG im Rahmen des Projekts G04 «Unterstützung für pflegende Angehörige in Einstiegs-, Krisen- und Notfallsituationen»
Die Einsamkeit zu thematisieren ist wichtig. Ich habe über ein Jahrzehnt innerhalb der Philosophie der Eden Alternative dazu Weiterbildungen gegeben. Alle Pflegenden waren jeweils froh über ihre emotionale Belastung sprechen zu können bzw. kleine Veränderungen im Alltag des Betroffenen zu initiieren . Dies muss aber von der Organisation getragen werden indem es erlaubt ist neben den sogenannten Leidtungsabrechnung auch Themen anzugehen die nicht abgerechnet werden können