Campingferien schulen Körper und Geist. Ständig müssen wir uns an neue Situationen anpassen, ständig uns neu einrichten. Aber wir werden älter, unbeweglicher. Unklar ist, wie lange solche Ferien noch möglich sind. Ein Beitrag unserer Autorin Esther Spinner.
Das morgendliche Barfussgehen im taunassen kühlen Gras, der wandernde Baumschatten, der prasselnde Regen auf dem Autodach. Die Spatzen, die unseren Platz besuchen, das Buchfinkenpaar, das auf die Spatzen folgt, der Milan, der über uns kreist, das abendliche Konzert im angrenzenden Sumpfgebiet, das Quaken, Gurren, Krächzen. Das unerwartete Plätschern. Leise nähern wir uns dem Zaun. Ein brauner Kopf streckt sich durch das Schilf. Ein Reh schaut uns eine Weile an, taucht ab, schwimmt weg, hinterlässt kleine flüsternde Wellen.
Das ist es, was ich am Campieren liebe. Allerdings ist es streng. Und einiges kann ich nicht mehr so gut wie vor wenigen Jahren. Stühle und Tisch mehrmals täglich dem Schatten nachtragen ist anstrengend. Auch sind meine Hände vergesslicher geworden, wissen nicht mehr, wo sich das Salz versteckt und wohin die Servietten verschwunden sind. Meine Hände irren sich öfters als zuhause.
Anstrengend, aber es hält beweglich
Schon bei der Ankunft auf einem Campingplatz sind wir gefordert. Wo wollen wir stehen? Morgensonne, Abendsonne? Viel Schatten oder wenig? Wie weit entfernt vom Sanitärgebäude? Nahe bei Fluss oder See, wenn es denn ein Gewässer hat, oder gibt es dort zu viele Mücken? Welchen Eindruck macht die Nachbarschaft, wie viele Kinder und Hunde leben da? Hin und her diskutieren wir, schliesslich wird entschieden, der Platz bezogen mit der letzten Diskussion: Wie stellen wir unseren Campingbus hin?
Während meine Gefährtin das Sonnendach herunter rollt, Stühle und Tisch aufstellt, erkundige ich die nähere und weitere Umgebung. Braucht die Dusche Jetons? Hat es Toilettenpapier? Wo ist der nächste Laden? Wohin bringen wir jeden Morgen die Kühlelemente aus unserer Kühlbox? Gibt es Wlan und wie heisst das Passwort? Wo ist die Bushaltestelle? Lauter Informationen, die ich bei der Weiterreise möglichst schnell wieder vergesse, damit ich den Kopf frei habe für neues Wissen.
Es ist anstrengend. Es hält beweglich.
Nicht alles geht mehr leicht. Meine Knie reklamieren beim Klettern aufs Bett, meine Gefährtin stöhnt leise, wenn sie den vollen Wasserkanister herbeiträgt. Wie lange noch, denke ich oft. Wie viele Jahre rollen wir die Sonnenstoren noch hinunter und wieder hinauf? Wie lange machen Kopf, Knie, Hände noch mit?
Teilhaben und Beobachten
Uns an die wechselnde Nachbarschaft zu gewöhnen, fällt uns leicht. Der Nachbar, der uns morgens vor seiner Velotour ein lautes Hallöchen zuruft, wächst uns ans Herz. Wir gewöhnen uns auch an die Betthupferl, die er abends den netten Ladys bringt. Auf einem anderen Campingplatz erschrecken mich die tätowierten Biker, die am Lagerfeuer die Klampfe stimmen und zu singen beginnen. Da gehen wir morgen wieder, flüstere ich nachts meiner Gefährtin zu. Nie hätte ich gedacht, dass wir am nächsten Abend in der Runde sitzen und mitsingen: Wir lagen vor Madagaskar… dies nur, weil wir am Nachmittag geduldig den Schilderungen unseres Nachbarn lauschten: Mit dem Töff da im Norden oben, aber auch einmal im Süden…ich sage dir…
Am liebsten mochte ich das alte Ehepaar, älter noch als wir, das den Sommer über auf dem Campingplatz lebt. Immer dabei: die Katze. Sie wohnen nicht weit weg, eine knappe Stunde mit dem Auto. Ihr Wohnwagen mit grossem Vorzelt ist gut eingerichtet. Morgens nach zehn beginnen sie gemeinsam Gemüse zu rüsten. Wasser holt er, da er besser zu Fuss ist als sie. Pünktlich um zwölf ist die Suppe fertig, seine Hände zittern leicht, als er uns zwei Teller Minestrone, einen nach dem andern, sorgfältig zuträgt. Danach kommt er mit der Weinflasche.
Ich erinnere mich an die junge Frau, die mit ihrem Hund neben uns übernachtete. Morgens um sechs verschwanden sie, zu Fuss, wie sie gekommen waren; an das junge Paar, das stundenlang las, er am Boden auf dem Bauch, sie auf dem Liegestuhl. Und an die Familie, die mit einem umgebauten Lastwagen unterwegs war und auf der Ladefläche kochte. Aus den Lautsprechern klang Peter Schillings Hit aus den 80er Jahren, immer wieder, bis ich beinahe mit Major Tom ins Weltall flog.
Wie oft noch?
Offenbar stillt campieren ursprüngliche Bedürfnisse. Alle paar Tage ein neues Zuhause einrichten. Die Nähe zu Gras, zu Bäumen, Igeln und Vögeln. Ja, auch zu Ameisen, Stechmücken und Wespen. Oft die Nähe zum Wasser. Ich schwimme gerne morgens um sieben an den verschlafenen Enten, an den Seerosen vorbei. Wie oft werde ich das noch tun? Ich denke an die Ferien in Sardinien vor drei oder vier Jahren, an den langen Spaziergang im Sand, ans Springen über die Wellen im niedrigen Wasser. Schon damals fragte ich mich: Wie oft noch? Ich habe es nicht mehr getan seither. Aber ich erkenne nun Buchfinken und habe ein schwimmendes Reh gesehen.
Auch das: Vorbei, vorüber und wahrscheinlich nicht zu wiederholen.
Warum traure ich über das Vergangene? Warum freue ich mich nicht darüber, dass es war? Eine Gedichtzeile setzt sich in meinem Kopf fest: ich habe sie gehabt. Keine Ahnung von welchem Gedicht. Einige Stunden später kommt eine zweite Zeile dazu: aber diese Tage. Nach längerem Nachdenken erkenne ich, wie die Zeilen zueinander stehen: aber diese Tage / ich habe sie gehabt. Etwas ist vergangen, es kehrt nicht wieder. Aber es gehört mir. Die Nachbarinnen und Nachbarn, Major Tom, das nasse Gras unter den Füssen, das schwimmende Reh. Es gehört mir. Selbst wenn ich alles vergessen würde, ich hatte es erlebt. Aber diese Tage … Könnte ich anstatt über das Vergangene zu trauern, Trauer und Wehmut mit Freude ersetzen? Es wäre einen Versuch wert.
Esther Spinner (*1948) absolvierte eine Ausbildung zur Krankenschwester und später zur Lehrerin für Krankenpflege. Sie arbeitete freiberuflich als Kursleiterin für Schreibkurse und lebt als Schriftstellerin in Zürich. Neben ihren Büchern hat sie Beiträge für Anthologien, Zeitschriften, Zeitungen und für das Radio verfasst. Ihr neues Buch Mit Hund und Wort ist der Edition 8 erschienen.
Danke, liebe Esther
Ein wunderbarer Bericht über unser Aelterwerden und ja, die Vergänglichkeit beschäftigt uns immer mehr, da unser Zeitfenster stets kleiner wird. Geniessen wir alles, was uns noch möglich ist und helfen wir jenen, die damit Mühe haben.
Herzlichst, Brigitte
Danke für diesen Text. Er ging mir direkt ins Herz. Wie toll Esther Spinner da erzählt, beobachtet. So ist es und doch fühlen wir uns so lebendig im Hier und Jetzt. Danke!