Führt die digitale Vernetzung zu mehr Kontakten oder zu mehr Einsamkeit?

Bestseller-Autorin Noreena Hertz schreibt in ihrem neuen Buch, dass die Digitalisierung zu mehr Einsamkeit führen kann. Aber digitale Tools können es auch möglich machen, mehr miteinander zu kommunizieren. Im Interview erklärt Lilian Suter von der Fachgruppe Medienpsychologie am ZHAW Departement Angewandte Psychologie, wie wir diese Tools nutzen können, um sinnhafte Beziehungen zu stärken.

Im Lockdown mussten wir unsere persönlichen Kontakte stark einschränken. Haben uns digitale Tools dabei geholfen, miteinander in Kontakt zu bleiben? Oder können sie echte, persönliche Kontakte nicht ersetzen?

Digitale Tools haben während der Zeit grosser Einschränkungen sicherlich dazu beigetragen, den Kontakt zu anderen aufrecht zu erhalten. WhatsApp oder andere Videokonferenztools haben es ermöglicht, sich trotz Entfernung zu «sehen». Natürlich können solche Tools eine physische Begegnung oder eine Umarmung nur bedingt ersetzen. Aber sie haben es sicher leichter gemacht, in Kontakt und im Bilde zu bleiben.

Wie können z.B. ältere Menschen auch an dieser Entwicklung hin zu mehr digitaler Kommunikation teilnehmen?

Ein neues digitales Tool zu erlernen und bedienen zu können, stellt für viele – gerade ältere Menschen – auch in normalen Zeiten eine gewisse Herausforderung dar. Während der Pandemie war es für ältere Menschen zusätzlich schwierig, weil sie als Risikogruppe gelten und deshalb ja niemand vorbei kommen durfte, der die Bedienung am Handy oder Tablet hätte zeigen können. Zum Glück gibt es das klassische Telefon, das für viele ältere Menschen sicher ein wichtiger Kommunikationskanal während der Zeit der einschränkenden Massnahmen war.

Studien zeigen, dass gerade die jüngeren Seniorinnen und Senioren heute schon ziemlich digital unterwegs sind. Zudem gibt es Angebote, zum Beispiel von Pro Senectute, um die Medienkompetenz von älteren Menschen zu fördern. Die Nutzung von digitalen Medien bedeutet für ältere Menschen oft auch ein gewisses Mass an Selbständigkeit beibehalten zu können und über Teilhabe an der Gesellschaft zu verfügen.

Sorgen die Vernetzung, ständige Erreichbarkeit und die digitalen Technologien allgemein für mehr persönliche Kontakte? Oder entwickeln wir uns unbemerkt zu einer Gesellschaft von gut vernetzten Einsamen?

Mein persönlicher Eindruck ist, dass wir grundsätzlich mehr Kontakte haben als vor der Digitalisierung. Das Internet ermöglicht es uns, nicht nur einfach in Kontakt zu bleiben, sondern auch einfach neue Menschen kennen zu lernen, falls wir das wünschen. Die ständige Erreichbarkeit ist aber für viele ein zweischneidiges Schwert. Es ermöglicht spontane Gespräche und schnellen Informationsaustausch, kann aber auch zu Erwartungen führen und so zum Beispiel zu einem Druck, sofort antworten zu müssen. Ich denke, hier braucht es Selbstreflexion darüber, wo und wie man erreichbar sein möchte und Meta-Kommunikation über die eigene Erreichbarkeit.

Wie kann uns die digitale Transformation bei unseren persönlichen Kontakten unterstützen ohne dass eine «digitale Vereinsamung» droht?

Nicht alle Kontakte sind gleich. In der Psychologie wird zwischen strong ties (z.B. eine enge Freundschaft) und weak ties (z.B. eine lose Bekanntschaft) unterschieden. Ich vermute, dass die digitale Vernetzung vor allem die Anzahl der weak ties, der eher oberflächlichen Kontakte, erhöht. Gleichzeitig sind es vor allem die strong ties, die starken und tiefen Beziehungen, die eine grosse Rolle für unser Wohlbefinden spielen und damit vor Einsamkeit schützen. Wir könnten also digitale Tools bewusst einsetzen, um unsere sinnhaften und wichtigen Beziehungen zu stärken.

Diskutiert mit am Event von ZHAW digital zum Thema Digitalisierung und Einsamkeit!

In der Veranstaltung von ZHAW digital «Brave new lonely world» sprechen wir mit der Ökonomin und Bestseller-Autorin Noreena Hertz über die Gefahren der zunehmenden Einsamkeit in unserer digitalisierten Gesellschaft. Die Veranstaltung mit Noreena Hertz wurde verschoben auf das Frühjahr 2022. Informationen zum neuen Termin findet ihr zu gegebener Zeit auf unserer Website www.zhaw.ch/digital.


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