Im Alter wird die Welt enger, kleiner. Wie ist das auszuhalten, fragt sich unsere Autorin Esther Spinner. Was kann jede:r Einzelne tun? Sich dagegen wehren? Sich hingeben? Solange es noch geht, Welt einsammeln, empfiehlt die Dichterin Rose Ausländer.
Die Welt zieht sich zurück, entfernt sich von mir. Sardinien ist weiter weg denn je. Wie könnte ich mit schmerzenden Knien, mit Koffer, Rucksack und Hund die Reise bewältigen: Hinein ins Tram, hinaus aus dem Tram, hinein in den Zug und wieder hinaus, vom Genueser Bahnhof hinunter in den Hafen, hinauf aufs Schiff, immerhin gibt es da eine Rolltreppe. Wie könnte ich. Zu Hause bleiben, die Welt Welt sein lassen. Ohne mich.
Die Welt zieht sich zurück. Oder ziehe ich mich von der Welt zurück? Klein wird sie, meine Welt: Meine Wohnung mit meinem Arbeitsplatz, den Nachbarinnen, der ganzen Siedlung. Ist es das?
Ich träume von einem elektrischen Gefährt für Behinderte, eines mit einem Korb für das Hündchen. Damit in den Zug? Ich denke an die italienischen Züge mit ihren steilen und hohen Tritten, mit denen ich früher schon Mühe hatte. Hier in der Schweiz ginge es vielleicht. Aber auch nur vielleicht. Wie viele Randsteine wären zu überwinden bis zum Bahnhof? Oder fährt man mit so einem Gefährt auf der Strasse, setzt sich dem Verkehr aus, wird allenfalls übersehen?
Teil der Welt
Die Welt kommt in meine Wohnung dank Radio, Fernseher, Zeitungen. Da liegt sie vor mir, die Welt, aber sie riecht nach nichts. Kein Salz liegt in der Luft, wenn am TV das Meer gezeigt wird, kein Schweiss zu riechen, wenn ich eine Menschenmenge sehe. Eine sterile Welt vor mir, eine aus Buchstaben, Geräuschen, Bildern. Aber immerhin. Ein Ausschnitt der Welt.
Doch es gibt die besseren Tage, an denen ich zur Bibliothek gehe, in ein Café, abends zu Besuch. Oder gar, über Pfingsten, mit dem Campingbus ins Grüne. Es geht noch. Ich brauche da einen Trittschemel und dort einen, dann gelange ich hinein in den Bus und hinauf ins Bett. Wunderbar lebendig fühle ich mich auf dem Camping, solange unser Platz nicht zu weit weg ist von den Toiletten und Duschen. Als Teil der Welt fühle ich mich, denke an Rose Ausländer: Welt einsammeln überall wo du sie findest…[i] Ich finde die Welt, oder sie findet mich: acht kleine Kinder, im Kreis auf einer Decke sitzend, daneben am Tisch die Eltern; der einzelne Mann mit einer Zigarre im Mund vor seinem überlangen Wohnmobil; der Lappen im Gras neben dem Wohnwagen, der sich plötzlich bewegt, sich zusammenrappelt und zum Hund wird; die Wanderung dem Fluss entlang, der mich mit seinem stetigen Strömen an den Missisippi erinnert, den ich nie gesehen habe. Ich kann mir einbilden, ich würde dem Missisippi entlanglaufen, auch wenn ich kein Krokodil sehe.
Geht es darum, den Blick für die Welt zu schärfen? Darum, die Einstellung zu ändern, das, was möglich ist als Welt zu begreifen?
Wie schaffen sie das?
Ich sammle die Welt ein auf dem Hundespaziergang. Die Begegnung mit der Frau mit Rollator und Hund, sie wohnt auf der anderen Strassenseite in einem kleinen Reihenhaus. Am Rollator geht sie gebückt, stützt die Unterarme auf die Griffe. Das Hündchen verheddert sich mit der Leine im Rollator, löst sich wieder, keift meine Hündin an, dann wedeln beide und beschnuppern sich. Die Frau mit dem verrutschten Lippenstift lächelt, zieht die nachgezogenen Augenbrauen noch etwas höher. Sie kennen sich, fragt sie. Ja, sie kennen sich. Sie nickt, geht weiter, über ihren Rollator gebückt. Wie schafft sie das in ihrem kleinen Haus mit den vielen Treppen, wie?
Ich begegne der Frau mit den Krückstöcken, die jeweils nach drei Schritten stehen bleibt, um zu verschnaufen, dem Mann, dessen Füsse in Massschuhen stecken, der eine Schuh mit dicker Sohle. Mit den Armen rudernd bewegt er sich vorwärts, er bewegt sich. Wie schaffen sie das?
Für den späteren Gebrauch
Ich gehe den Weg Richtung Limmat zwischen den Gärten hindurch, sammle alle Grünschattierungen ein, die darin dunkelrot glühenden Rosen, sammle das helle Blau der Jungfer im Grünen, das dunkle Blauviolett der Wiesensalbei. Der Limmat entlang sammle ich den Fluss ein, der schnell dahinzieht, die Wolken spiegelt, auf dem Himmel und im Himmel[i], ich sammle den zottigen Klappertopf, der laut Bestimmungsbuch ein besonderes Kennzeichen hat: Die Operlippe ist durch einen violetten Zahn charakterisiert[ii]. Wahrhaftig, da sitzt bei jeder Blüte ein violetter Zahn, der mich an Märchen und Hexen erinnert, ich rieche die Hexensuppe, höre sie brodeln im Topf über dem Feuer, rieche das Feuer, soviel Welt dank eines violetten Zahns.
Ich sammle die Welt, ich bin in der Welt. Ich trage das gesammelte nach Hause, lege es ab in meinem Kopfalbum, die Bilder der sich grüssenden Hunde, der ziehenden Limmat, all der Farben und Blumen, der Gerüche nach Wasser, nach nassem Hund und nassem Gras, die Geräusche der Strasse, die ich überquere: das anfahrende Tram, die Autos, das Klingeln eines Velos. Alles ist Welt, alles wird gelagert für späteren Gebrauch, für dann, wenn meine Welt noch enger wird.
Einengung und Dichtung
Eine meiner Freundinnen geht nur noch per Taxi aus dem Haus, zu beschwerlich jeder Schritt. Eine andere bleibt ganz zu Hause, ihrer Beschwerden wegen, ihrer Ängste wegen, ihres Ehemannes wegen, der für sie die Welt ist. Was brauchst du? Was kann ich für dich tun? Warum gibst du keine Antwort? Schläfst du? Ihre Schritte durch den langen Korridor, die grosszügige Stube, die zwei Schlafzimmer, das Bad bis in die kleine Küche. Nicht zu vergessen der Balkon, den die nahe Strasse mit Lärm eindeckt. Auch das eine Welt.
Wie Leben mit der Einengung? Ich will sie nicht, aber sie nähert sich mir, nicht stolpernd, hinkend, nein, mit Riesenschritten. Wenn jemand stolpert und hinkt, dann bin ich es. Ich sammle Welt ein, behalte sie in mir für die Tage, an denen es nur noch aus Büchern zu sammeln gibt. Auch da finde ich Welt, eine Welt aus Buchstaben, Wörtern, Sätzen. Ich halte mich an Rose Ausländers Erlaubnis: … ja sogar den Flieder / darfst du einbeziehen / ich erlaube es dir / im Namen der Dichtung[i], alles, was mich anspricht, was ich schön finde, alles was leuchtet, sammle ich.
Rose Ausländer selbst verbrachte ihre letzten 10 Lebensjahre im Bett. Sie, die jüdische Frau, die den zweiten Weltkrieg in einem Kellerversteck überlebte. In ihrem Zimmer, in ihrem Bett verwandelte sie die eingesammelte Welt in Dichtung.
[i] Rose Ausländer: Gedichte, S. Fischer, Frankfurt am Main 2001
[ii] Ebd.
[iii] Tier- und Pflanzenführer für unterwegs, BLV Verlagsgesellschaft, München, Wien, Zürich 2001
[iv] Wie Anmerkung 1 und 2
Zur Person
Esther Spinner (*1948) absolvierte eine Ausbildung zur Krankenschwester und später zur Lehrerin für Krankenpflege. Sie arbeitete freiberuflich als Kursleiterin für Schreibkurse und lebt als Schriftstellerin in Zürich. Neben ihren Büchern hat sie Beiträge für Anthologien, Zeitschriften, Zeitungen und für das Radio verfasst. Ihr neues Buch Mit Hund und Wort erscheint im Herbst 2024 bei der Edition 8.
Liebe Esther,
ich freue mich auf dein Buch und behalte “das kleine Stück Welt” unserer letzten Begegnung in warmer, herzlicher Erinnerung.