Autorin: Esther Spinner
Früher oder später stirbt jeder Mensch. Doch oft wird das Sterben, der Tod ausgeblendet. Wie liesse sich darüber sprechen? Soll man das überhaupt, oder ist Schweigen besser? Diesen Fragen geht unsere Autorin nach.
Sie häuften sich in letzter Zeit in meiner Umgebung, die Todesfälle, die schweren Erkrankungen. Ein Bekannter starb durch Suizid, eine Bekannte entschied sich für das Sterbefasten. Zwei Menschen sind an Krebs erkrankt, doch Sterben ist noch kein Thema, die Hoffnung auf Genesung steht im Vordergrund, das Durch- und Aushalten von Chemotherapie und Bestrahlung.
Diese Erfahrungen spielten wohl mit, als es plötzlich ums Sterben ging in der gemütlichen Geburtstagsrunde. Meine Lebensgefährtin vertrat die Meinung, dass der Zugang zu tödlichen Medikamenten für alle frei sein sollte, ohne den Umweg über Exit. Denn, so sagte sie, jeder Mensch habe das Recht, dann zu gehen, wann er wolle, ohne Erklärung oder Rechtfertigung. Eigentlich waren wir uns einig: Das wäre richtig so. Doch sofort stellten sich Bedenken organisatorischer Art ein. Wer würde die Medikamente hüten und verteilen? Wie würde sichergestellt, dass niemand gegen seinen Willen getötet würde? Die Ärzte würden sich weigern, meinte die eine Freundin, und erst die Apotheker, ergänzte die andere, die haben die Medis in der Hand. Man könnte es regeln wie mit dem Schwangerschaftsabbruch, schlug meine Lebensgefährtin vor. Dass die Abgabe freiwillig ist, dass nur diejenigen Ärztinnen und Apotheker, die dies befürworten, die tödlichen Medikamente abgeben würden. Auch dieser Vorschlag wurde diskutiert und zerpflückt. Wir häuften Argumente auf Argumente und begruben darunter die Idee mitsamt dem Tod und damit auch die Angst vor ihm. Aber immerhin sprachen wir in einer Freundinnenrunde über ein Thema, das uns alle betrifft, die meisten von uns ängstigt und dennoch so wichtig ist. Das fand ich aussergewöhnlich.
Der Tod kommt zu allen. Die erkrankte Nachbarin schaut mich mit grossen Augen an. Vielleicht noch ein Jahr, sagt sie, vielleicht auch zwei. Aber vielleicht… sie spricht nicht weiter, schaut ins Leere. Was lässt sich sagen? Könnte ich sie einfach in den Arm nehmen? Wir kennen uns nicht sehr gut, ich traue mich nicht. Nach kurzem Schweigen sage ich: Das ist schlimm. Ja, wiederholt sie, das ist schlimm, und beginnt von ihren Plänen zu erzählen, von den Enkelkindern, die noch so klein sind. Es kommt, wie es kommt, sagt sie zum Abschluss, und scheint mir etwas gefasster.
Geht es darum, sich immer wieder dem Unfassbaren, dem Endgültigen anzunähern? Aber wie? Indem man aufzählt, was man zurücklassen muss? Indem man versucht, dem Tod ins Gesicht zu schauen? Manchmal übe ich mich darin. Wenn nachts die Ängste kommen, spreche ich ihn an: Da bist du, du machst mir Angst, du schnürst mir die Luft ab, machst mir Herzklopfen… Ich erzähle ihm von meinen Gefühlen, die sich erzählend verändern, bis hin zu: Du bist da, du gehörst dazu, du Tod, du und ich, wir gehören zusammen. Dieser Satz ohne Atemnot halblaut in die Nacht hinaus gesagt, tröstet mich.
Wie aber mit anderen über ihn sprechen? Vielleicht ist es die Angst, ihn mit dem Ansprechen zu rufen, die uns am Reden hindert. Manchmal braucht es Umwege. Meine Schwester erzählte mir, sie überlege sich, welche Pfarrerin ihre Abdankung gestalten solle, die Pfarrerin-Freundin sei eben schon gestorben. Mit einer anderen Freundin suchte ich Haikus, die an ihrer Abschiedsfeier gelesen werden sollten. Auch das ist reden über den Tod, selbst wenn er nicht genannt wird und das Wort Sterben nicht ausgesprochen wird. Wir reden zusammen vom Abschied, vom Weggehen, von der Gestaltung von Ritualen.
Dass es sinnvoll ist, eine Patientenverfügung zu erstellen, ist den meisten Menschen klar. Das Wichtigste daran scheint mir, dass wir anhand dieses Papiers miteinander sprechen. Was möchtest du, was möchte ich? Stelle ich mir vor, dank einer Reanimation weiterzuleben? Würde ich die Beatmungsmaschine und die Folgen akzeptieren können? Da die Medizin so vieles kann, ist es wichtig, sich im Nein-Sagen zu üben. Ich erinnere mich, wie es war, als ich im Spital nach Ja oder Nein gefragt wurde. Ich lag im Krankenhausbett, das auf dem Gang stand, weil der Notfall überlastet war, die Infusion tropfte in meine Vene, das Schmerzmittel begann zu wirken. Eine Pflegefachfrau fragte mich im Vorbeigehen: Wollen Sie reanimiert werden oder nicht? Ich konnte nur deshalb nein sagen, weil ich mir das vorher anhand der Patientenverfügung überlegt hatte. Nein, sagte ich, und mir schien, meine Stimme zittere. Sie nickte und ging weiter, mein Herz klopfte laut. Hatte ich mein Leben verschenkt? Nein. Ich hatte für mich, für mein Leben und für meinen Tod Verantwortung übernommen.
Je älter ich werde, umso näher stehe ich dem Tod. Im Gespräch mit anderen, im Gespräch mit dem Tod, versuche ich, mich ihm anzunähern. Der Tod als Freund? Es wäre immerhin möglich.
Esther Spinner (*1948) absolvierte eine Ausbildung zur Krankenschwester und später zur Lehrerin für Krankenpflege. Sie arbeitete freiberuflich als Kursleiterin für Schreibkurse und lebt als Schriftstellerin in Zürich. Neben ihren Büchern hat sie Beiträge für Anthologien, Zeitschriften, Zeitungen und für das Radio verfasst. Ihr neues Buch Mit Hund und Wort ist in der Edition 8 erschienen.

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