In vielen Berufen, in denen der persönliche Kontakt zum Menschen im Vordergrund steht, hat die Digitalisierung einen schwierigen Stand. Aber auch in der Geburtshilfe können digitale Hilfsmittel die Arbeit von Hebammen erleichtern.
Anna lebt in Winterthur und hat vor vier Wochen ihr erstes Kind auf die Welt gebracht. Ihr Sohn Jonas kam im Kantonsspital Winterthur zur Welt, seitdem wird die junge Familie von einer Hebamme betreut. Eines Abends weint das Neugeborene, aber Anna kann sein Verhalten nicht einordnen und weiss nicht, was sie tun soll. Um ihre Hebamme zu kontaktieren, öffnet sie die App BabyCHare auf ihrem Smartphone. Annas persönliche Daten, ihr elektronisches Patientendossier sowie Informationen zu ihrer Krankenversicherung sind bereits gespeichert. Sie schickt eine Nachricht an ihre Hebamme, die sich nach wenigen Minuten telefonisch bei Anna meldet. Über ein kleines Kinderarmband zeichnet ein Sensor die Körpertemperatur und die Herzfrequenz von Jonas auf. Nach einem ausführlichen Videocall versichert die Hebamme der Mutter, dass ihr Kind nicht in Gefahr sei, und gibt der Mutter Anregungen, wie das Kind zur Ruhe finden kann. Sie vereinbaren einen Hausbesuch für den nächsten Tag, bei dem eine eingehende Beratung der Mutter stattfinden wird.
Diese Situation liegt noch in der Zukunft. Anna gibt es nicht und ebenso wenig die App BabyCHare und das Armband mit Sensor. Aber so ähnlich könnte die Geburtshilfe in den nächsten Jahren aussehen, wenn digitale Technologien auch in diesem Gesundheitsbereich vorangetrieben werden.
DIZH Fellowship über digitale Technologien in der Geburtshilfe
Michael Gemperle vom ZHAW-Departement Gesundheit ist Senior Researcher am Institut für Hebammen und ausserdem DIZH Fellow. Im Rahmen seines von ZHAW digital geförderten DIZH Fellowships untersucht er den Einsatz digitaler Technologien in der Geburtshilfe. «Digitale Hilfsmittel werden in dem Bereich herkömmlicherweise als nicht prioritär angesehen, im Vordergrund stehen eher der direkte Kontakt und das persönliche Gespräch», sagt Michael.
Trotz WhatApp und Videocalls: Hausbesuche bleiben weiterhin wichtig
Viele Tätigkeiten von Hebammen und Gynäkologinnen können von digitalen Hilfsmitteln nicht ersetzt werden. Dazu gehören zum Beispiel Untersuchungen, bei denen die haptische Wahrnehmung im Vordergrund steht, wie das Abtasten des Körpers.
Auch bei Hausbesuchen ohne körperliche Untersuchung bietet die Anwesenheit vor Ort viele Vorteile. So schränkt die fehlende Präsenz die Möglichkeiten erheblich ein, die Lebenssituation, die Stimmung und die Bedürfnisse der Frauen einzuschätzen. Die Fachpersonen sind geschult darin, soziale Signale zu deuten, anzusprechen und gegebenenfalls Lösungen zu skizzieren.
«Zudem besteht ein wichtiger Teil der Arbeit darin, die Frauen in dieser biografischen Umbruchphase emotional zu begleiten und unterstützen», sagt Michael. Hier sei es schwierig, auf digitale Hilfsmittel, wie einen Videocall, zurückzugreifen, und dabei genauso wirksame Arbeit zu leisten.
Digitalisierung als Ergänzung
Frei praktizierende Hebammen arbeiten oft im Bereitschaftsdienst, das heisst, sie sind bei Bedarf oder im Notfall rund um die Uhr für die Frauen da. Hier können digitale Hilfsmittel im ersten Schritt eine grosse Unterstützung sein. Per Telefon, SMS oder WhatsApp können sie schnell und unkompliziert bei Rückfragen nachhelfen oder Sachinformationen liefern. «Es besteht die Möglichkeit, dass kleinere Fragen oder Probleme zeitnah geklärt werden und durch wegfallende Wegzeiten mehr Zeit für die Beratung zur Verfügung steht.» sagt Michael. Ein Videocall kann einen Hausbesuch jedoch nicht ersetzen.
Die Digitalisierung eröffne so auch vor allem neue Möglichkeiten zur Ergänzung des bisherigen Angebots. Erste Studien zeigen, dass digitale Tools die perinatale Gesundheitsversorgung verbessern können in Bereichen wie der Früherkennung und Verminderung von Gesundheitsrisiken sowie der Reduktion von postpartaler Depression und perinataler Mortalität. Die Bereitschaft neue Tools auszuprobieren sei grundsätzlich da, zugleich bestehen ernstzunehmende Vorbehalte. Das gelte für die Frauen und Hebammen gleichermassen. Dabei nicht vergessen werden darf, dass Hebammen telemedizinisch Dienstleistungen weiterhin grösstenteils nicht abrechnen können und damit im Endeffekt meist gratis leisten.
Um das Angebot sinnvoll zu ergänzen, ist daher auch die Politik gefragt, die notwendigen Ressourcen bereitzustellen, damit Lösungen wie BabyCHare Frauen wie Anna und ihre Hebammen in Zukunft unterstützen können.
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Digitale Vernetzung im Gesundheitsbereich, kontaktlose Beratungs- und Behandlungsmöglichkeiten, künstliche Intelligenz für medizinische Analysen – Digital Health bietet Lösungen, die jetzt gefragter sind denn je.
Am Donnerstag, 16. September 2021, findet der 3. Digital Health Lab Day der ZHAW statt zum Thema «Implementing Digital Health Innovations» und bietet eine Gelegenheit, um mit Gesundheitsfachpersonen, EntwicklerInnen, ManagerInnen, PraktikerInnen und Forschenden in den Austausch zu treten.
Weitere Informationen zum Programm gibt es auf der Website des Digital Health Labs.