Autorin: Esther Spinner
Wenn einem Wörter entschwinden, macht das Angst. Lauert eine Demenzerkrankung dahinter oder sonst etwas Schlimmes? Es gilt, sich hilfreiche Strategien anzugewöhnen, um die verlorenen Wörter zu behalten oder sie gar nicht erst zu verlieren.
Durch den Frühling spazieren mit meiner kleinen Hündin und einer Freundin. Die Krokusse bewundern, gelbe, violette, weisse, die Buschwindröschen am Limmatufer, das helle Grün an den Ästen. Frühling. Wir sprechen über Magnolien, die es uns angetan haben, über die grossen Blüten, weiss, blassviolett, rosa, gab es früher nicht ausschliesslich weisse Magnolien?
Seit meine Mutter gestorben ist, sehe ich sie im Frühjahr in jedem Magnolienbaum. Ich habe ihre Erzählungen nicht vergessen von ihrer Hochzeit vor der St.-Jakobs-Kirche unter dem blühenden weissen Strauch, auf den Fotos verschwimmt ihr Hochzeitskleid mit den Blüten. Waren sie nicht auch eben erblüht, als meine Schwester konfirmiert wurde? Meine Mutter, meine Schwester, beide in Schwarz unter dem weissen Busch, beide ohne ein Lächeln, mein Vater lebensbedrohlich erkrankt im Spital. Er überlebte, starb einige Jahre später im Herbst, ohne Magnolienblust, bedeckt mit einem weissen Leintuch.
So schön sind sie, die – und weg ist das Wort, wie wenn es jemand verschluckt hätte. Es liegt mir nicht auf der Zunge, steckt nicht in meinem Gaumen und schon gar nicht in meinem Kopf, es ist weg, entschwunden, versteckt sich vielleicht hinter dem Rücken meiner Mutter. Stattdessen drängt sich ein anderes Wort auf: melanzane, die italienischen Auberginen, glänzend und tief violett haben sie nichts zu tun mit denen, deren Benennung verschwunden ist. Beginnen sie nicht auch mit M? Meine Freundin hilft aus. Ma-g-no-lie, sagt sie, und das Bild des halbhohen Buschs mit den prallen melanzane verschwindet. Seither aber lauert es hinter den Magnolien, die nun verblüht sind. Immerhin, sagt die Freundin tröstend, immerhin beginnen beide Wörter mit M, und beide haben vier Silben, die Ähnlichkeit ist unverkennbar. Wirklich? Wenn ich jemandem erzählte, im Frühling würden in Zürich die melanzane am Limmatufer wachsen – Gibt es nicht auch eine weisse Sorte? wagt sich die Freundin vor. Doch die kompakten Früchte wollen auch in Weiss den Magnolien nicht gleichen.
Wortfindungsstörung heisst das, was mir eben passiert ist, etwas, das ältere Menschen oft erleben. Hinter jeder Wortfindungsstörung lauert die Angst vor einer Demenzerkrankung. Es gäbe aber auch andere Gründe, meint das Internet, Gründe wie Stress oder Schlafmangel, Depressionen oder bestimmte Medikamente. Ich kenne Tage, an denen mir die Wörter öfters fehlen, und Tage, an denen ich jedes Wort mühelos finde. Es hat mit meiner Konzentration zu tun. Als ich letzthin an einer Weiterbildung war – weitaus die älteste Teilnehmerin mit Mitte siebzig – da fand ich drei Tage lang jedes Wort, das ich aussprechen oder aufschreiben wollte, so wach sass ich da, hörte zu, diskutierte mit.
Nebst der Konzentration aufs Gespräch gibt es eine weitere Strategie, die mir meistens hilft: Mich zu entspannen. Das Wort dort zu lassen, wohin es sich verzogen hat, nicht hektisch danach zu suchen, an etwas anderes zu denken. Und schon fliegt mir das gesuchte Wort zu. Magnolie.
Gehe ich allein mit meiner Hündin, spaziere ich zählend der Limmat entlang. Busch-wind-rös-chen. Vier Silben. Ich brauche aber fünf oder sieben, so will es das Haiku, ein japanisches Silbengedicht. Drei Zeilen, die erste und letzte mit je fünf Silben, die mittlere mit sieben. Denke ich nach über ein Haiku herum, stellen sich die Wörter sofort ein. Es gelingt mir, das Buschwindröschen im Kurzgedicht zu bannen. Drei mal wiederhole ich mir das fertige kleine Gedicht, dann kommt es in die entsprechende Schublade in meinem Kopf, aus der ich es zu Hause angekommen, heraus nehmen kann. Das hat bis jetzt immer funktioniert. Nun aber ist die Schublade, die ich öffne, leer. Ausser einem einzelnen Blatt der kleinen Blume ist da nichts mehr. Ich bin entsetzt. Wie begann die erste Zeile? Das Buschwindröschen, die Buschwindröschen? Und wie ging das Gedicht weiter? Nach Tagen bringe ich es einigermassen zusammen, es ähnelt vermutlich dem vergessenen, aber das Gleiche ist es nicht.
die Buschwindröschen
streuen ihre Blätter wie
Schnee übers Wasser
Auch hier brauche ich eine Strategie. Ich suche in meinem Pult das kleinste Schreibheft, spitze einen meiner kurzen Bleistifte an. So gerüstet gehe ich ausser Haus. Abends steht ein vor dem Vergessen bewahrtes Haiku darin.
leuchtende Sonnen
die Blüten des Löwenzahns
gelb mitten im Grün
Ob ich wieder vermehrt Gedichte auswendig lernen soll? Eine Weile tat ich das regelmässig, sicher wäre es nützlich, um das Gedächtnis zu trainieren. Der Frühling bietet sich geradezu an. Kann ich sie noch aufsagen, die Frühlingsgedichte von Damals? Frühling lässt sein blaues Band [i]… ja, es geht noch, hin bis zum Schluss: Frühling, ja, du bist’s! Dich hab ich vernommen! Reim und Rhythmus helfen, mich zu erinnern, auch an dieses Gedicht: Die linden Lüfte sind erwacht [ii]… und an die tröstliche Wiederholung: Nun muss sich alles, alles wenden. Darauf hoffe ich.
[i] Eduard Mörike: Er ist’s in Echtermeyer / von Wiese: Deutsche Gedichte von dern Anfängen bis zur Gegenwart, August Bagel Verlag Düsseldorf, 1956
[ii] Ludwig Uhland: Frühlingsglaube, ebenda
Esther Spinner (*1948) absolvierte eine Ausbildung zur Krankenschwester und später zur Lehrerin für Krankenpflege. Sie arbeitete freiberuflich als Kursleiterin für Schreibkurse und lebt als Schriftstellerin in Zürich. Neben ihren Büchern hat sie Beiträge für Anthologien, Zeitschriften, Zeitungen und für das Radio verfasst. Ihr neues Buch Mit Hund und Wort ist in der Edition 8 erschienen.
