Wie zugänglich ist das Internet? «Wir sind zwar weiter als andere Kantone, stehen aber bezüglich gewissen Aspekten noch am Anfang», sagt Simone Luchetta, Fachredaktorin für Barrierefreiheit bei der Staatskanzlei Zürich. Inhalte im Web werden bisher nur selten für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen oder Sehbehinderungen erstellt. Ich treffe engagierte Personen, die dies ändern möchten.
Ich bin zu Gast beim Kanton Zürich, in der Abteilung «Digitale Verwaltung». In einem kleinen Raum im vierten Stock sitze ich vor Simone Luchetta. Sie und ein siebenköpfiges Team sind unter der Leitung von Roger Zedi für die Qualitätssicherung Web zuständig. Das bedeutet unter anderem, dass sie den Webauftritt des Kantons möglichst barrierefrei gestalten müssen. Das verlangt das Behindertenrechtsgesetz. Warum nur «möglichst»? Obwohl die Barrierefreiheit von Anfang an mitgedacht wurde, gilt es einiges aufzuarbeiten. Zum Beispiel etliche PDFs, die für Blinde nicht oder nur schlecht zugänglich sind, sowie Inhalte, die so kompliziert geschrieben sind, dass sie von Personen mit kognitiver Beeinträchtigung nicht verstanden werden. Simone Luchetta und ihr Team sind deshalb auf einer Mission: Sie arbeiten relevante Dokumente und Inhalte auf und stellen diese in leichter Sprache zur Verfügung, erstellen Videos in Gebärdensprache und barrierefreie PDFs.
Was ist leichte Sprache? Leichte Sprache ist im Gegensatz zur Einfachen Sprache stärker geregelt. Zur Zielgruppe gehören Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, Lernschwierigkeiten, Demenz sowie auch Menschen, die nicht gut lesen oder Deutsch sprechen können. Es gibt verschiedene Regelwerke; ein Beispiel: Regeln für Leichte Sprache. |
Am Anfang steht die Bildung
Eine Woche zuvor treffe ich Oriane Pierrès am Jubiläumsevent von ZHAW digital. Sie und Alireza Darvishy haben gerade einen Workshop zu digitaler Barrierefreiheit durchgeführt und arbeiten beide am ICT-Accessibilty Lab am Institut für Informatik der ZHAW. In aktuellen Projekten führen sie Workshops für Lehrende an Hochschulen durch, und befragen Studierende mit Beeinträchtigungen, auf welche Barrieren sie im Unterricht stossen. Ein Problem ist zum Beispiel, dass die Lehrmaterialien oft nicht vorab zur Verfügung gestellt werden. Dann wissen Studierende mit Sehbeeinträchtigungen nicht, was in der Vorlesung auf den Folien gezeigt wird. Besonders wichtig ist vor allem die Bereitschaft der Lehrenden, die Perspektive der Studierenden zu verstehen. Diese brauchen nämlich mehr Ressourcen, nicht weil sie «den einfachen Weg gehen», sondern weil sie sich viel mehr anstrengen müssen, um die Hindernisse zu überwinden, die ihnen in den Weg gestellt werden, sagt Oriane.
Gleichzeitig ist es wichtig, das Bewusstsein von Studierenden zu schärfen, die später Berufe ausüben, in denen sie digitale Hürden verhindern können. An der School of Engineering werden solche Kurse als Wahlfächer angeboten. Oriane Pierrès und Alireza Darvishy würden sich wünschen, dass es ein Pflichtmodul ist. Denn oft fehlt einfach das Wissen, und Programme werden nicht böswillig so entwickelt, dass sie nicht barrierefrei sind. Ein paar wenigen ist es egal, weil sie denken, dass nur eine kleine Gruppe von Menschen betroffen ist. «Das stimmt aber nicht, es sind etwa 16% der Weltbevölkerung und auch immer mehr ältere Menschen», entgegnet Oriane. Ob die Module verpflichtend werden, hängt vom politischen Willen ab.
Technologiewunder KI?
Oriane untersucht in ihrer Doktorarbeit, die von Alireza Darvishy betreut wird, wem KI nutzt und ob sie Inklusion fördert oder verhindert. In einer Literaturrecherche analysiert sie, ob ethische Aspekte in Studien, die KI-basierte Bildungstechnologie präsentieren, berücksichtigt werden. Das Ergebnis ist ernüchternd – Barrierefreiheit wird oft gar nicht erwähnt und auch nicht in die Entwicklung integriert. «Im besten Fall sollten die Autor:innen immer einen Absatz zu ethischen Aspekten schreiben müssen und darin reflektieren, was die Auswirkungen der Technologien sind», sagt Oriane. KI wird überall integriert und kann als assistierende Technologie auch Studierenden mit Beeinträchtigungen helfen. Daher sollte die Barrierefreiheit von Anfang an mitgedacht werden.
Zurück im Büro bei der Kantonalen Verwaltung. Ich frage auch Simone Luchetta, welche Rolle KI bei der Umsetzung von digitaler Barrierefreiheit spielt. «Ich finde es unglaublich, was in im letzten Jahr passiert ist. KI ist schon seit vielen Jahren ein Thema – jetzt ist sie sehr mächtig und nützlich geworden. Das Statistische Amt hat gemeinsam mit uns intern eine KI entwickelt, mit der sich Text in Einfache und Leichte Sprache übertragen lässt. Sie hilft enorm, aber wir können die Texte in Leichter Sprache nicht einfach übernehmen», sagt sie. In Deutschland gibt es Gemeinden, die Webseiten mit KI auf Knopfdruck übertragen und automatisiert veröffentlichen. In der Zürcher Verwaltung dagegen ist das keine Option, die KI macht Fehler, sie «halluziniert». Das liegt in der Natur dieser generativen KI-Systeme: «Eine Falschinformation können wir uns nicht erlauben.» Zudem ist bei Leichter Sprache vorgegeben, dass die Texte von Betroffenen geprüft werden sollen, und «Partizipation» ein Teil des Aktionsplans des Kantons Zürich. Deshalb werden die Texte in Leichter Sprache, wenn möglich von einer Prüfgruppe, bestehend aus Menschen mit kognitiver Behinderung und Organisationen, geprüft und deren Rückmeldungen in den Text eingearbeitet. KI ist also bisher ein nützliches Hilfsmittel, aber wer weiss, welche Möglichkeiten sich in Zukunft ergeben werden.
Ein Blick in die Zukunft
Ich frage Oriane nach dem aktuellen Stand der digitalen Zugänglichkeit an Schweizer Hochschulen. Sie atmet tief durch. «Das ist ein bisschen schwierig zu sagen, es gibt noch viel zu tun. Im Jahr 2014 wurde die UN-Konvention ratifiziert, dort wurde geschaut, wie der Stand in der Schweiz ist und es wurden 2022 große Lücken festgestellt”, antwortet sie. Inzwischen hat Oriane das Gefühl, dass sich an der Universität Zürich, der ETH und der ZHAW etwas bewegt, auch weil mehrere Projekte gestartet wurden. «Das gibt mir Hoffnung, dass sich etwas zum Positiven verändert. Es ist eine Sache, zu sagen, dass wir uns engagieren, und eine andere, zu sehen, ob es wirklich passiert. Aber ich bin optimistisch.»
Auch Simone Luchetta sagt, dass es zwar keine Lobby für Barrierefreiheit gebe, sich aber etwas bewege. Sie war 20 Jahre lang im Journalismus tätig und hat unter anderem für Tamedia über Technologien geschrieben und Menschen mit Behinderungen interviewt. Jetzt ist sie dabei, ein Netzwerk aufzubauen und Zugang zu den betroffenen Gemeinschaften zu finden. Auch wenn der Anfang schwierig ist und Zeit braucht – Simone Luchetta bleibt dran, denn sie ist überzeugt, dass es sich lohnt.
Weitere Informationen:
- Erklärung zur Barrierefreiheit | Kanton Zürich (zh.ch)
- Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen EBGB (admin.ch)
- Buch (2024) von Alireza Darvishy et. al.: Barrierefreies Forschen und Lehren an Hochschulen
- O. Pierrès, M. Christen, F. M. Schmitt-Koopmann and A. Darvishy, “Could the Use of AI in Higher Education Hinder Students With Disabilities? A Scoping Review,” in IEEE Access, vol. 12, pp. 27810-27828, 2024, doi: 10.1109/ACCESS.2024.3365368.
- Schattenbericht (2022) von Caroline Hess-Klein und Eliane Scheibler: Inclusion Handicap
Projekte an der ZHAW: Digital Futures Map An der ZHAW gibt es mehrere Teams, die digitale Barrierefreiheit in Projekten vorantreiben. Einige davon sind in der visuellen Übersichtskarte von ZHAW digital zu finden, z.B. in der Tramlinie «New Work» unter der Haltestelle «Diversity». Klicke auf den Link oder dieses Bild, um zur interaktiven Karte zu gelangen: ZHAW digital hat unter anderem diese Projekte unterstützt: Accessibility of ZHAW Webpages (Dario D’Agostino), Accessible digital map and navigation for pedestrians with disabilities (Alireza Darvishy), Digital opportunities promoting inclusion in Academia (Christiane Hohenstein), Use of machine translation in healthcare (Caroline Lehr). |