Ein Abend mit neuen Erfahrungen und Bekanntschaften
12. Mai 2022: Es ist ein warmer Frühlingsabend und in der Zürcher Innenstadt tummeln sich die Menschen. Das Nüü, der Eventraum von ZHAW digital, hat die Türen geöffnet und die Rampe ausgefahren. Aus dem Raum ertönt ein Stimmengewirr und ein Roboter surrt – gerade schenkt er eine Apfelschorle aus.
Dies ist der Eindruck einer sehenden und hörenden Person. Doch einige der Anwesenden haben einen anderen Zugang zur Welt. Das Thema des Abends hat damit zu tun: Wie erfahren Menschen mit Behinderungen die digitale Welt? Interessierte Besucher:innen können an verschiedenen Stationen mehr zu den Herausforderungen und digitalen Möglichkeiten erfahren. Machen wir einen Rundgang.
Browsen mit den Ohren
An einer Station sitzt René Jaun, ein IT- Journalist, der an der ZHAW Journalismus studiert hat. Programmieren ist sein Hobby, im Job bei Netzmedien interviewt er unter anderem IT- Spezialisten aus der Geschäftswelt. Der PC an seiner Station sieht etwas anders aus als der meine: Der Bildschirm ist schwarz und an die Tastatur ist eine Braillezeile angeschlossen. Um nun auf die digitalen Inhalte zugreifen zu können ist ein Screenreader nötig. Dies ist eine Software, die Bildschirminhalte und -strukturen aufbereitet, damit sie von einer synthetischen Stimme vorgelesen oder von der Braillezeile in elektronische Blindenschrift umgewandelt werden können. René Jaun betont, dass Sehende den Bildschirm als Fläche erkennen – er hingegen hört den Inhalt Zeile für Zeile. Dies birgt einige Schwierigkeiten. Zum Beispiel wenn Elemente fehlerhaft vorgelesen werden oder bei Bildern keine Bildbeschreibung (Alt-Text) eingefügt wurde. Wenn ein wissenschaftlicher Artikel wichtige Resultate in einem Diagramm zusammenfasst und es keinen schlüssigen Alt-Text gibt, bleibt dies für Menschen mit Sehbehinderung und blinde Menschen verborgen. Dies und weiteres erklärt René Jaun geduldig den Besucher:innen, die mit ihm für eine kurze Weile den digitalen Raum betreten.
Sag mir, dass es Blumen sind
Auf der Seite gegenüber steht eine Reihe von Monitoren. Die Besucher:innen davor tragen Kopfhörer und sehen folgendes Video:
An dieser Station erfahren wir wie Menschen mit Sehbeeinträchtigungen Videos erleben können – dank visuellem Übersetzen. Dieses wird an der ZHAW im Departement Angewandte Linguistik in verschiedenen Modulen gelehrt. Es findet in den Bereichen Anwendung, in denen visuelles Material für blinde Menschen und Menschen mit Sehbeeinträchtigungen verarbeitet wird, u.a. in der Film- und Fernsehbranche.
An einer zweiten Station begleitet Dozent Martin Kappus die Besucher:innen beim audiodeskribieren von Videos (mit einer Software von Video to voice). Zusätzlich zur Originaltonspur wird eine gesprochene Beschreibung der visuellen Inhalte erstellt. Gar nicht so einfach, stellen manche fest. Julia Manser, Studentin im MA Angewandte Linguistik, die gerade in einem Seminar einen Beitrag vom Norddeutschen Rundfunk (NDR) audiodeskribiert, erklärt welche Szenen Schwierigkeiten bereiten: Stellen mit sehr viel Dialog oder mit Fremdsprachen. Bei fremdsprachigen Dialogen werde nämlich ein Voice-Over eingespielt, womit die Deskriptionen gar keinen Platz hätten. Aber auch Stellen mit sehr wenig Handlung sind oft schwierig, da bei diesen nicht viel beschrieben werden kann. Je nach Länge und Komplexität eines Beitrags brauchen die ÜbersetzerInnen mehr oder weniger Zeit. Obwohl die Arbeit sehr umfangreich sein kann, ist der Tenor im Raum klar: der Nutzen ist immens. Nebst positiven Erfahrungen von Personen mit Sinnbeeinträchtigungen und praxisnahem Nutzen für Studierende findet auch eine Sensibilisierung und Verankerung in der Gesellschaft statt.
Einer Vorlesung zulesen, Übungen sehend verstehen
An der ZHAW wird am Departement Angewandte Linguistik wichtige Forschung zur barrierefreien Kommunikation betrieben. Die barrierefreien Methoden werden nicht nur erforscht, sondern auch gelehrt und angewandt. Auf zwei grossen Leinwänden in der Ecke werden laufend Videoclips gezeigt, die am Departement Gesundheit der ZHAW und an der ETH aufgezeichnet wurden. Wir erfahren an dieser Station welche digitalen Möglichkeiten der Inklusion an Hochschulen bestehen. Dazu zählen unter anderem Hochschullehre mit Schriftdolmetschen, einer Assistenz/studentische Hilfskraft für Rückfragen oder Gebärdensprachdolmetschen.
Eine Gruppe von 3 ZHAW Studentinnen im 6. Semester hat soeben eine Eyetracking-Brille anprobiert. Mit dieser Brille wird das Blickverhalten der Träger:innen aufgezeichnet. Dies wird in Projekten eingesetzt in denen z.B. erforscht wird wie Studierende mit Hörbehinderung eine Vorlesung wahrnehmen. Die drei Studentinnen überlegen sich im Master in der Vertiefung Fachübersetzen den Schwerpunkt Barrierefreie Kommunikation / Audiovisuelles Übersetzen zu belegen. Sie kennen schon einige der Inhalte der Stationen, freuen sich aber die interaktiven Elemente im Nüü auszuprobieren.
PDF-Dokumente hörbar machen
Gegenüber der Roboterbar, die weiterhin unermüdlich Getränke verteilt, treffe ich auf Felix Schmitt-Koopmann. Er doktoriert an der School of Engineering (ZHAW) und stellt an der Station das Programm PAVE vor. Neben ihm sitzt eine Besucherin, die am Departement Angewandte Linguistik arbeitet. Sie bearbeitet mit PAVE ein PDF-Dokument so, dass es barrierefrei zugänglich ist. Die Anwendung ist einfach und in nur vier Schritten kann der Text für einen Screenreader – wie in René nutzt – vorbereitet werden. Das Projekt stammt aus der Feder vom ICT-Accessibility Lab unter der Führung von Alireza Darvishy. Er ist Professor für den Bereich ICT-Accessibility (dieser Lehrstuhl wurde zum erste Mal in der Schweiz ins Leben gerufen), und gründete das Lab im Jahr 2005; dazu leitet er viele weitere Forschungsprojekte sowie Doktorarbeiten. Dazu zählt zum Beispiel auch die Entwicklung der App Touchexplore, mit der Menschen mit Sehbehinderung OpenStreetMap-Kartenausschnitte audiotaktil erforschen können.
Neue Impulse
Im Nüü treffe ich auf Studentinnen, die barrierefreies Dolmetschen studieren möchten, einen Pionier der Forschung zu Barrierefreiheit und viele weitere Besucher:innen. Besonders im Kopf bleibt mir das Plädoyer von Beat Kleeb, dem ehemaligen Präsidenten der Stiftung procom. Er betont, dass es als Person mit Hörbeeinträchtigung schwierig ist und bleibt, insbesondere durch die kognitive Überlastung, die in gewissen Situationen eintritt. In Gesprächen mit mehreren Personen und Dolmetschern müsse er sich gut konzentrieren, um nichts zu verpassen. Auch René Jaun weist auf die vielen Problematiken hin, die im digitalen Raum bestehen. Die Digitalisierung habe in den letzten Jahren aber auch viel Positives erreicht, wie die grosse Anzahl an Projekten an der ZHAW und das grosse Interesse am Thema am heutigen Abend zeigt.
Weitere Informationen und praktische Links zum Thema Barrierefreiheit:
- Accessibility Services von SwissTxt
- Merkblatt – Dolmetschen in Kursen, Aus- und Weiterbildungen
- Fokus Accessibility (Netzwoche): «Heute im Web: geschlossene Gesellschaft»
- Wann ist eine Website barrierefrei? “Web Content Accessibility Guidelines” (WCAG)