Mit Swissnex in den USA: «Ich war in Dayton.» – «Äh… wo?»

Regula Freuler, Leiterin Kommunikation und Marketing der ZHAW Soziale Arbeit, berichtet von ihrem Swissnex-Aufenthalt in den USA.

Bowling in Dayton: Reklame für ein Bowling-Center im Stadtteil Kettering.

Die Zusage für einen zweiwöchigen Aufenthalt an der Ostküste der USA, unterstützt von Swissnex, erhielt ich im Jahr 2020 – mitten in der Pandemie. Die Einreise für Non-Residents war zu diesem Zeitpunkt nicht möglich, und man wusste nicht, wie lange das gelten sollte. Nun, es sollte ziemlich lange gelten: Ende 2021 hakte Swissnex nach, ob ich im Jahr 2022 meinen Aufenthalt nachholen wolle. Meine Projekteingabe war inzwischen obsolet geworden, und eigentlich hatte ich auch nicht damit gerechnet, dass ich mich gleich nochmal bewerben werden könnte. Da ich mit zwei Kollegen am Departement Soziale Arbeit gerade eine Podcast-Reihe konzipierte, schrieb ich einen neuen Antrag, der zu den Forschungs- und Veranstaltungsthemen unseres Departements passte: ein Podcast über Care Leaver:innen in den USA. Aber wo? Mit wem? Und mit welchem Fokus?

Da Swissnex zwei Büros an der Ostküste hat, mailte, telefonierte und zoomte ich mit gut einem Dutzend Fachpersonen in Boston und New York. Und natürlich sprach ich mit zahlreichen wissenschaftlichen Kolleg:innen an der ZHAW. Sofort angetan war ich vom Hinweis unserer ehemaligen Studentin Pia Labruyère. Sie nahm 2018 am Studierendenaustausch mit der Wright State University in Dayton teil und war immer noch bewegt von ihren Erlebnissen. Dayton? Mittlerer Westen? Rust Belt? Trump-Territorium? Das klang interessant! Und es gab dem Ganzen einen neuen Dreh: Statt mich auf einen bestimmten Aspekt von Leaving Care zu konzentrieren, wollte ich in meinem Podcast die Handlungsansätze der Sozialen Arbeit mit Care Leaver:innen darstellen.

Die ersten Tage in den USA verbrachte ich im Swissnex-Büro im Viertel Dumbo, das zum Stadtbezirk Brooklyn gehört. Dessen Leiter Oliver Haugen und die Mitarbeiterin Josephin Erni ermöglichten mir einen angenehmen Start – und eine sichere Internetverbindung. Olivers Hündin Luna sorgt zusätzlich für gute Stimmung. Nach vier Tagen flog ich weiter in den Bundesstaat Ohio.

Josephine Erni und Oliver Haugen mit dessen Hündin Luna im Swissnex-Büro in Brooklyn, New York.

Als ich Freund:innen in Zürich von meinen bevorstehenden Projekt in Dayton erzählt hatte, mussten fast alle nachfragen: «Äh… wo?» Den etwas älteren sagte das Abkommen von Dayton etwas, bei dem Milosevic, Tudman und Izetbegovic im Jahr 1995 das Ende des Bosnienkrieges verhandelten; auch Bill Clinton war da.

Traurige Bekanntheit erlangte Dayton beziehungsweise der ganze Bundesstaat Ohio in den vergangenen 20 Jahren durch die Opioid-Epidemie. Seit 1999 sind fast eine Million Menschen an einer Überdosis gestorben, unter anderem wegen des fahrlässigen Verschreibens von Opioid-haltigen Schmerzmitteln. Seit dem Beginn der Pandemie stiegen die Todesraten stark an, vor allem bei People of Colour. Auch in Dayton wird mit Plakaten vor der Abhängigkeitsgefahr solcher «Pillen» gewarnt.

Ohio gehört zu jenen Staaten in den USA, die von der Opioidkrise besonders hart betroffen sind.

Dayton ist eine der Städte, die von der ab Mitte des 20. Jahrhunderts boomenden Autoindustrie profitierten und unter deren Niedergang enorm litten: Vor 100 Jahren bekannt als innovationsfreundlichste Industriestadt der USA, verlor Dayton in den 1980er-Jahren einen Fünftel seiner Bevölkerung. Was heisst das in Zahlen? Die rund 140 000 Einwohner:innen verteilen sich heute auf eine Fläche von 147 Quadratkilometer, was eine Bevölkerungsdichte von 956 Einwohner:innen pro Quadratkilometer ergibt. Zum Vergleich: In Lausanne wohnen gleich viele Menschen wie in Dayton, allerdings teilen sich dort 3388 Menschen einen Quadratkilometer.

Und wie fühlen sich solche Zahlen an? «Low traffic», sagte mir das Navi meines Mietautos jeden Tag, bei jeder Adresse, die ich eingab. Die meiste Zeit über wirkte die Stadt wie verwaist. Im Zentrum gibt es keine Corner Shops wie in New York oder anderen grossen Städten, im Gegenteil, viele Stadtgegenden sind sogenannte «food deserts». Die Shoppingcenter befinden sich in den Aussenbezirken. Ohne Auto ist man hier übel dran. Selbst an jenem gewöhnlichen Mittwochnachmittag im Mai als ich ankam, war kaum jemand unterwegs im Stadtzentrum – schon gar keine Fussgänger:innen.

Verwaiste Hauptstrassse: Die South Main Street von Dayton an einem normalen Mittwochnachmittag.

Mein zentraler Kontakt in Dayton war Sarah E. Twill, Professorin für Soziale Arbeit an der Wright State University, eine der beiden ansässigen Hochschulen. Sie stellte für mich den Kontakt zu zahlreichen Institutionen her, die mit Care Leaver:innen zu tun haben. Für den übernächsten Tag schlug sie vor, dass wir gemeinsam zuerst an einer LGBTQ+-Veranstaltung und anschliessend an einer Demonstration gegen die Abschaffung des Abtreibungsrechts teilnehmen. Für diesen Samstag waren im ganzen Land rund 40 «Ralleys» angekündigt. Genützt hat es nichts: Gut einen Monat später, am 24. Juni 2022, hob der Supreme Court «Roe vs Wade» auf.

Mit Sarah E. Twill an der Demonstration für das Recht auf Abtreibung.

An der LGBTQ+-Veranstaltung, an der vor allem Organisationen für Unterstützung und Aufklärung warben, fiel mir ein Mann auf. Er verschenkte Waffenschlösser zur Prävention von Suiziden und Schiessunfällen. Was der Zusammenhang mit Menschen aus der LGBTQ+-Community dabei sei, wollte ich von ihm wissen. «Deren hohe Suizidrate», antwortete er und strahlte mich dabei freudig an. Sarah, eine überzeugte Demokratin, rollte nur die Augen. Am selben Tag wurden zehn Menschen in einem Supermarkt erschossen, anderthalb Wochen später sollten in Texas auf gleiche Weise 19 Schulkinder und zwei Lehrpersonen umgebracht werden. Auch Dayton hat es schon getroffen, im Jahr 2019 kam es im historischen Viertel zu neun Toten und 17 Verletzten. Es war übrigens der einzige Ort in Dayton, an dem ich an der Tür einer Bar ein Schild entdeckte mit dem Hinweis «Firearms Welcome». Rund 400 Millionen Waffen sind in den USA in privaten Händen – und das angeblich im Namen der Sicherheit. Abtreibung und Waffen: Diese beiden Themen spalten das Land. Der Mann wollte mir ein Waffenschloss schenken. Ich dachte an die vielen Schweizer Armeewaffen in Privathaushalten. Und lehnte dennoch dankend ab.

In den folgenden Tagen besuchte ich mehrmals die Non-Profit-Organisation Daybreak für obdachlose und vulnerable junge Menschen. Ihre beiden Gebäude liegen an einer vierspurigen, aber ebenfalls kaum befahrenen Strasse direkt neben dem Stadtzentrum. Daybreak bietet eine Notschlafstelle an, aber auch Programme für Drogenprävention, Jobsuche, Lebenshilfe, Wohnungssuche.

Das Hauptgebäude der Non-Profit-Organisation Daybreak in Dayton.

Hier führte ich Interviews mit sieben Mitarbeitenden, die in den verschiedenen Programmen tätig sind. Dank einem Hinweis des Leiters ZHAW-Nachhaltigkeitsprogramme Francesco Bortoluzzi, der von 2016 bis 2020 bei Swissnex in Boston arbeitete, hatte ich – wörtlich – den halben Koffer voller Geschenk-Schokolade mitgenommen. Nicht nur die Jugendlichen im Daybreak freuten sich, sondern auch die Mitarbeitenden wie zum Beispiel der Motivationstrainer Alan Cole, der früher selber bei Daybreak untergekommen ist.

Alan Cole, Motivationstrainer bei Daybreak.

Ganz alle geplanten (und erhofften) Interviews für den Podcast kamen nicht zustanden. Es wird also noch einiges an Nachbereitung zu tun sein. Dennoch erwies sich der Swissnex-Aufenthalt enorm bereichernd. Ich kann die ZHAW-Absolventin, die mir den Tipp gab, nun gut verstehen.


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