Steigende Kosten für die Physiotherapie – wirklich ein Grund zur Panik? Eine Frage des Massstabs

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Von Dr. Andreas Kohler und Michael Stucki

Die Diskussion um steigende Gesundheitskosten erhitzt regelmässig die Gemüter. Die neuste Schlagzeile zum Thema aus dem Tagesanzeiger lautet: «Physiokosten explodieren». Die Krankenkassen weisen auf die in den letzten Jahren stark gestiegenen Ausgaben für die ambulante Physiotherapie hin. Sind diese tatsächlich ein Grund zur Panik hinsichtlich hoher und steigender Gesundheitsausgaben?

Wir finden: nein, nicht unbedingt. Bei Kostenvergleichen stellt sich die Frage nach dem richtigen Vergleich. Wir sollten Kosten mit dem Nutzen der erbrachten Leistungen vergleichen und nicht mit den Kosten in den Vorjahren. Ausserdem sollten wir prüfen, ob es sich nicht um eine Verlagerung der Kosten aus anderen Bereichen des Gesundheitswesens handelt.

Zwischen 2007 und 2019 sind die gesamten Kosten in der obligatorischen Krankenversicherung (OKP) pro versicherte Person um 38.6% gestiegen. Allerdings gibt es beträchtliche Unterschiede zwischen einzelnen Bereichen des Gesundheitswesens. Bei den Physiotherapie-Leistungen betrug der Kostenanstieg sogar 88.7% (siehe Abbildung 1). Weniger «explosiv» sieht der Kostenanstieg aus, wenn man in diesem Zeitraum die Veränderung des Anteils der ambulanten Physiotherapie an den gesamten Bruttoleistungen in der OKP betrachtet: Er stieg von 2.4% auf 3.3%.

Doch ist der Vergleich mit den Vorjahren überhaupt die richtige Referenz?

Abbildung 1: Kostenentwicklung in der Grundversicherung: Total und Physiotherapie pro versicherte Person (2007-2019; indexiert, Basisjahr 2007=100), Basis MOKKE (Monitoring der Krankenversicherungs-Kostenentwicklung) des Bundesamts für Gesundheit.

Was ist der richtige Massstab?

Bei der Wahl der Referenz ist entscheidend, welche Frage der Vergleich beantworten soll. Aus gesundheitsökonomischer Sicht interessiert uns, ob die Ressourcen kostenwirksam verwendet werden. Kostenwirksam bedeutet, dass der Gesundheitsnutzen der Leistungen in einem angemessenen Verhältnis zu ihren Kosten steht. Der Vergleich der Physiokosten von heute mit denen von 2007 sagt nichts darüber aus, ob die zusätzlichen Ausgaben kostenwirksam sind. Er sagt nur, dass wir heute einen grösseren Anteil unserer Ressourcen für Physiotherapie einsetzen.

Aus gesundheitsökonomischer Sicht gibt es aber Indizien, dass wir die vorhandenen Ressourcen heute kostenwirksamer einsetzen als im Jahr 2007. Aus unserer Sicht gibt es für das Kostenwachstum folgende Gründe:

  • Die mögliche Zunahme von konservativen Therapien bei muskuloskelettalen Erkrankungen wie Arthrose oder Rückenschmerzen. Diese umfassen in vielen Fällen ärztlich verordnete physiotherapeutische Leistungen und diese sind oft kostengünstiger als operative Eingriffe.
  • Die seit Jahren zu beobachtende Verschiebung von stationären zu ambulanten Leistungen. Physiotherapie nach Operationen, welche früher stationär geleistet wurde, wird heute ambulant erbracht. Diese Substitution entspricht einem Bedürfnis vieler Patientinnen und Patienten.

Zudem haben sich in den letzten Jahren die Tarife für die ambulante Physiotherapie kaum verändert. Die Kostenzunahme ist also ausschliesslich auf das Mengenwachstum (d.h. mehr Behandlungen) aufgrund der zwei oben genannten Begründungen zurückzuführen.

Kein Grund zur Panik

Sind die steigenden Kosten Anlass zur Sorge? Nicht zwingend. Denn der Kostenvergleich über die Zeit sagt noch nichts darüber aus, ob wir unsere Ressourcen im Gesundheitswesen ineffizient einsetzen. Erstens sollten die Kosten im Verhältnis zum Nutzen, d.h. einem verbesserten Gesundheitszustand der Patientinnen und Patienten, betrachtet werden. Zweitens sollten wir das Kosten-Nutzen-Verhältnis der ambulanten Physiotherapie mit dem alternativer Behandlungen vergleichen. In vielen Fällen dürfte die ambulante Physiotherapie in diesen Vergleichen ein höheres Kosten-Nutzen-Verhältnis haben.

Woher kommt die Alarmstimmung bei den Versicherern? Weil die Krankenversicherer im ambulanten Bereich im Gegensatz zu stationären Leistungen 100% der Kosten tragen müssen, haben sie ein nachvollziehbares Interesse daran, die Kosten- und somit die Prämienentwicklung zu kontrollieren. Allerdings sollten wir das ganze System im Auge behalten: von einer Behandlung mit einem guten Kosten-Nutzen-Verhältnis profitieren nicht nur Erkrankte, sondern alle Prämien- und Steuerzahlerinnen und -zahler.

Andreas Kohler ist Co-Leiter und Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Team Gesundheitsökonomische Forschung am WIG.

Michael Stucki ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Team Gesundheitsökonomische Forschung am WIG.


2 Kommentare

  • Danke für den tollen Beitrag. Als wir 2014 unsere collaborative Qualität Management Software Medicalbench an die Santesuisse vorstellten war die Meinung das die Therapeuten und Ärzte nicht mitmachen würden und deswegen stakeholder übergreifend zusammenarbeiten in Wirksamsheitsfragen im Gesundwesen noch keine Chance hätte. Diese Meinung hat sich meinens Wissen noch immer nicht verändert so das die Kostenträger gar nicht wissen können wie die Wirksamkeits-Zusammenhänge sind, ganz zu schweigen von Kostengekuppellte Beruf- übergreifende-Wirksamkeits-Zusammenhänge. Wenn jetzt mehr Interesse existiert können wir gerne überlegen wie wir unser Gesund system, zum wohl aller Beteiligten, gemeinsam effizienter gestalten können.


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