Neue WIG-Studie schätzt das Effizienzpotenzial im Schweizer Gesundheitswesen auf über 7 Mrd. Franken

Von Beatrice Brunner und Michael Stucki


Abbildung 1: Effizienzpotenziale im Gesundheitswesen entstehen aufgrund von zu hohen Mengen oder zu hohen Preisen (eigene Abbildung)

Die steigenden Gesundheitsausgaben in der Schweiz sind ein Dauerthema in Politik und Medien. Ist die Kostenentwicklung nachhaltig? Oder führt sie bald dazu, dass wir Leistungen rationieren müssen? Bevor zu einem solchen Mittel gegriffen wird, sollte die Politik versuchen, bestehende Ineffizienzen im System zu beseitigen. Eine neue Studie des WIG schätzt das Effizienzpotenzial auf mindestens 7.1 bis 8.4 Mrd. Franken oder 16% bis 19% der gesamten jährlichen Gesundheitsausgaben in der obligatorischen Krankenversicherung.

Jedes Jahr geben wir in der Schweiz rund 80 Mrd. Franken für unser Gesundheitswesen aus. Das entspricht fast 10’000 Franken pro Einwohner und Jahr. Die Ausgaben – insbesondere in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) – steigen seit mehreren Jahren stärker als die Gesamtwirtschaft. Der Bundesrat hat vorletzte Woche weitere Massnahmen beschlossen, um das Wachstum zu beschränken. Unter anderem sollen zwischen allen involvierten Parteien – Bund, Kantonen, Krankenversicherern und Leistungserbringern – verbindliche Zielvereinbarungen für die Kostenentwicklung im Bereich der OKP getroffen werden. Damit soll das Wachstum gebremst und ein Anreiz geschaffen werden, bestehende Ineffizienzen im System zu beseitigen.

Erste wissenschaftliche Studie mit detaillierten Schätzungen

Voraussetzung dafür sind detaillierte Kenntnisse über solche Ineffizienzen. Bislang kursierte unter Experten die grobe Schätzung von 20%, aber eine wissenschaftlich fundierte Herleitung fehlte. Das WIG hat nun zusammen mit Forschern von INFRAS  im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit das Effizienzpotenzial bei den KVG-pflichtigen Leistungen, also bei Leistungen, die von der OKP gemäss Krankenversicherungsgesetz (KVG) (mit-)finanziert werden, berechnet. Ein Effizienzpotenzial liegt dann vor, wenn eine Leistung (hier: Gesundheit für die Bevölkerung) ohne Qualitätseinbussen günstiger produziert werden könnte. Ineffizienzen haben ihren Ursprung entweder in zu hohen Mengen (z.B. wenn medizinisch unwirksame Eingriffe durchgeführt werden) oder zu hohen Preisen (z.B. weil Leistungserbringer in betrieblich ineffizienten Strukturen arbeiten) (siehe auch Abbildung 1 oben). Wir haben die Ineffizienzen in sechs Kategorien (je drei infolge zu hoher Mengen und Preise) eingeteilt.

Wo ist das Effizienzpotenzial am grössten?

Wir schätzen das gesamte Effizienzpotenzial auf 7.1 bis 8.4 Mrd. Franken oder 16% bis 19% der KVG‐pflichtigen Leistungen. Pro Kopf entspricht dies potenziellen jährlichen Ersparnissen von 855 bis 1’012 CHF. Die Zahlen wurden für das Jahr 2016 und separat für 14 verschiedene Leistungsbereiche berechnet (siehe Abbildung 3). Die grössten absoluten Effizienzpotenziale liegen bei der stationären Akutsomatik (2.07 bis 2.21 Mrd. Franken bzw. 4.6% bis 4.9% der Kosten der KVG‐pflichtigen Leistungen) und den ambulanten ärztlichen Leistungen (1.46 bis 1.60 Mrd. Franken bzw. 3.2% bis 3.5%). Zusammen mit den verschreibungspflichtigen ambulant verabreichten Medikamenten und den spitalambulanten Behandlungen machen diese Leistungen drei Viertel des gesamten Potenzials aus.

Abbildung 2: Geschätzte Effizienzpotenziale nach Leistungsbereichen und Effizienzkategorien (eigene Abbildung)

Das grösste Effizienzpotenzial im Verhältnis zu den Kosten je Leistungsbereich weisen die ambulante Radiologie (18.1% bis 48.2%), die stationäre Psychiatrie (25.5% bis 26.1%), die spitalambulante Akutsomatik (20.7% bis 22.6%) und die ambulanten Laboranalysen (18.1% bis 22.2%) auf.

Unsere Schätzungen sind mit einiger Unsicherheit behaftet. Zum einen waren aufgrund lückenhafter Datenlage nicht für alle Kategorien von Ineffizienzen und Leistungsbereiche Schätzungen möglich. Zum anderen mussten für die Schätzungen teilweise Annahmen getroffen oder Ergebnisse aus ausländischen Studien auf die Schweiz übertragen werden. In solchen Fällen trafen wir jedoch immer konservative Annahmen. Beides führt tendenziell zu einer Unterschätzung des tatsächlichen Effizienzpotenzials insgesamt. Vor diesem Hintergrund erscheint die grobe Schätzung von 20% recht plausibel.

Das heisst nun aber nicht, dass es auch möglich ist, das gesamte Effizienzpotenzial umzusetzen; es entspricht nur einem möglichen Sparpotenzial gegenüber einem Gesundheitswesen ohne Ineffizienzen. In der Realität dürften aber auch in einem sehr effizienten Gesundheitswesen noch Ineffizienzen bestehen.

Die Studie mit einer Beschreibung der Methoden und den detaillierten Resultaten ist hier verfügbar.

Beatrice Brunner ist Leitung (Co-Leitung) der Fachstelle Gesundheitsökonomische Forschung. Michael Stucki ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Team Gesundheitsökonomische Forschung.


1 Kommentar

  • Wir danken Ihnen für den Kommentar. Bei unserer Studie geht es nicht um eine Abwägung zwischen Gesundheit und Kosteneinsparungen, sondern um eine effiziente und kostenwirksame (und somit ökonomische) Gesundheitsversorgung. Wir können jeden Franken nur einmal ausgeben – ein verschwendeter Franken im Gesundheitswesen fehlt anderswo. Ziel muss also sein, unsere finanziellen Mittel möglichst effizient einzusetzen.

    Wir haben uns bei der Studie ausschliesslich auf Effizienzpotenziale konzentriert, die ohne Verlust der Behandlungsqualität zu realisieren wären. So sollen beispielsweise unwirksame Leistungen nicht mehr durchgeführt werden. Die Ärzteschaft setzt sich ebenfalls seit Jahren im Rahmen von «Smarter Medicine» für dieses Thema ein.


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