Onlinesucht: „Regeln sind nicht viel wert, wenn sie nicht durchgesetzt werden“

Eben ist das neue Buch von Isabel Willemse erschienen: “Onlinesucht – Ein Ratgeber für Eltern, Betroffene und ihr Umfeld” lautet der Titel. Warum sie diesen Ratgeber geschrieben hat, und wie er vor allem Eltern helfen soll, den Dialog mit ihren Kindern wieder aufzunehmen, hat sie mir im Interview verraten.

Interviews von Joy Bolli, Redaktorin, ZHAW Angewandte Psychologie

Porträt Isabel Willemse
Medienpsychologin Isabel Willemse berät Eltern und Jugendliche bei Themen wie Onlinesucht und Cybermobbing

Isabel, wie kamst du darauf, einen Ratgeber für Onlinesucht zu schreiben?
Isabel Willemse: Bei meiner wissenschaftlichen Tätigkeit im medienpsychologischen Forschungsteam an der ZHAW und in der Beratung bin ich immer wieder mit diesem Thema konfrontiert. Der letzte deutschsprachige Ratgeber zu diesem Thema, kam 2006 heraus. Seither hat sich einiges getan. Fachliteratur für Experten gibt es laufend neue. Aber für Eltern hat etwas gefehlt. In meinen Referaten und im direkten Austausch mit Eltern kamen immer wieder so viele Fragen auf, dass es mir wichtig war, den Betroffenen etwas Handfestes mit auf den Weg geben zu können.

Du hast in deinem Buch verschiedene Formen der Onlinesucht beschrieben. Auch bei Erwachsenen gibt es das Problem. Du hast dich aber bewusst entschieden mehrheitlich über Jugendliche zu schreiben. Wo ist der Unterschied?
Ein Bereich, der vor allem Erwachsene betrifft, ist der ganze Bereich der Pornografie. Den habe ich bewusst ausgeschlossen, weil das ein zusätzliches Thema ist. Natürlich kann das auch Jugendliche treffen, aber es ist ein ganz anderes Thema. Der grösste Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern liegt im ganzen Ablauf. Jugendliche leben noch bei ihren Eltern zuhause. Sie sind ganz anders eingebettet. Sie haben meist so etwas wie Familienstrukturen. Dadurch fallen Verhaltens-Veränderungen viel mehr auf. Das Umfeld merkt schneller, dass ein Problem da ist. Wenn eine erwachsene Person alleine lebt und sich sozial zurückzieht, dann fällt das dem Umfeld gar nicht so auf. Aber es hat auch einige Hinweise für Partnerinnen und Partner im Ratgeber.

Wenn Jugendliche im Elternhaus eingebettet sind, müsste man doch annehmen, dass sie in einem so sozialen Gefüge gar keine so “asozialen” Süchte entwickeln müssten….
Es handelt sich oft um Familien, die nicht von Anfang an Regeln aufgestellt haben. Wenn der Medienkonsum lange kein Thema ist oder Eltern sogar selbst einen exzessiven Umgang mit Medien haben, also eine Art vorgelebte Problemlösungsstrategie vorhanden ist, mit der man Langeweile oder Stress reguliert, dann kann die Sucht auch im Rahmen des Familienumfeldes entstehen. Irgendwann kommt dann der Moment, in dem einige Familienmitglieder merken, jetzt wird es zu viel. Wenn man erst dann mit Regeln kommt, wird es schwierig. Dann braucht es meist einen längeren Prozess. Umgekehrt gibt es auch viele Fälle, wo innerhalb der Familie ganz Vieles richtig gemacht wurde in der Erziehung. Dennoch bekommt das Kind vielleicht Probleme, sei es in der Schule, mit der Lehrstelle, im Freundeskreis. Es kann dann sein, dass die Kinder die Lösung im „Gamen“ suchen, weil es dort einfacher ist. Das kriegen die Eltern am Anfang gar nicht so mit, oder sie finden das am Anfang noch okay. Doch dann kippt die Situation irgendwann.

Ich habe das Buch verschlungen. Du erklärst, wie Soziale Netzwerke und Games aufgebaut sind und wie sie funktionieren. Diese Welt zu verstehen, so sagst du in deinem Buch, sei sehr wichtig für Eltern. Warum ist das so? Wenn es sich um Haschisch handeln würde, müssten Eltern ja auch nicht erst mit Kiffen beginnen, um ihrem Kind zu helfen.
Einerseits sind Medien ein sehr wichtiger Teil unserer Gesellschaft, die auch sehr viel Gutes mit sich bringen. Zudem braucht man die Medien – für die Schule, für die Arbeit, usw. Bei Substanzen kann man eher sagen, sie seien schlecht oder ungesund, und häufig sind dort ein kalter Entzug und Totalabstinenz wirklich sinnvoller. Das geht bei den Medien nicht so einfach. Man muss wirklich lernen, einen kompetenten Umgang mit dem potentiellen “Suchtmittel” zu finden. Dafür ist es wichtig, dass die Eltern diese Welt verstehen, um selbst einschätzen zu können, was hilfreich ist, und was weniger Sinn macht. Das ist der eine Punkt. Der andere ist, dass man die Regeln viel besser anpassen kann, wenn man einen Einblick hat und versteht, wie ein Game aufgebaut ist und wie die Strukturen im Spiel funktionieren.

Kannst du da ein Beispiel geben?
Wenn man zum Beispiel weiss, dass bei dem gespielten Game ein Durchlauf 45-50min geht, macht es keinen Sinn zu sagen: „Um diese Zeit muss Schluss sein!“ Dann sagt man lieber: „Schau, diesen Durchlauf machst du noch zu Ende, und dann ist Schluss.“ Oder man bestimmt eine Zeit, ab der kein neuer Durchlauf mehr gestartet werden darf, damit die Kinder schon vor Beginn des Abendessens fertig sind. Für dieses Wissen ist der Einblick wichtig. Andererseits darf man nicht vergessen, dass viele Medienangebote auch sehr positive Wirkungen haben. Auch beim Gamen können Kinder sehr viel lernen, solange die Games altersgerecht sind. Es gibt viele Spiele, die strategisches Denken verlangen, und Kinder brauchen unglaubliche Fähigkeiten. Wenn Eltern mit ihren Kindern gamen, sehen sie sehr schnell, dass es dafür auch Kompetenzen braucht. Die Bewunderung und Wertschätzung dafür auch einmal aussprechen zu können, hilft zur Verbesserung der Beziehung.

Welche Regel ist in deinen Augen die Wichtigste?
Grundsätzlich ist das Wichtigste, überhaupt einmal Regeln zu machen. Dauer und Inhalt sind ähnlich zu gewichten. Aber es ist schwierig, das so pauschal zu sagen. Vielleicht ist der Inhalt fast noch ein bisschen wichtiger.

Inwiefern?
Wenn die Kinder zum Beispiel noch jünger sind. Dann ist es wichtig, dass sie keine Dinge sehen, mit denen sie schlicht noch nicht umgehen können. Gewalt zum Beispiel. Was ich aber genauso wichtig finde, wie die Regeln selbst, ist die Pflicht, sie konsequent umzusetzen. Lieber hat man weniger, aber gute Regeln, die man auch konsequent umsetzen kann. Regeln sind nicht viel wert, wenn sie nicht durchgesetzt werden.

Siehst du in der Praxis, dass es viele Regeln gibt und wenig Umsetzung?
Ja, es heisst dann zum Beispiel, „unser Kind darf nur eine Stunde pro Tag gamen. Dann frage ich genauer nach, und die Betroffenen merken, dass es eigentlich viel mehr ist als eine Stunde jeden Tag. Manchmal ist es schwierig für Eltern, die Zeit überhaupt zu kontrollieren, denn sie haben teilweise selbst nicht die Zeit dafür. Da lohnt es sich dann, von Grund auf noch einmal zu schauen, welche Regeln Sinn machen und wie sich diese Regeln und die nötigen Kontrollen auch in den Tagesablauf der Eltern und der Jugendlichen integrieren lassen.

Als wir Kinder waren, gab es noch kein Internet. Aber die Vereinbarung, die Nutzung und die Kontrolle waren damals Thema bei der Handhabung des Taschengeldes. Ist das Lernen von Medienumgang ähnlich wie das Lernen des Umgangs mit Geld?
Diese Analogie finde ich spannend. Den Umgang mit Geld muss man ja auch erst lernen, damit man später kompetent mit Geld umgehen kann. Es ist wichtig zu wissen, wie viele Einnahmen ich habe, wie viele Ausgaben und ob das einigermassen aufgeht. Man könnte tatsächlich die Mediennutzungszeit mit einer neuen Währung vergleichen. Die Betroffenen müssen lernen, die Zeit, die sie zur Verfügung haben, sinnvoll einzuteilen. Man hat grundsätzlich die 24 Stunden des Tages. Davon geht ein Grossteil fürs Schlafen drauf. Ein weiterer grosser Teil wird für die Arbeiten, resp. die Schule gebraucht. Und dann hat man Freizeit. Von dieser Zeit braucht man auch etwas für den sozialen Bereich. Man muss sich also gut einteilen. Darum gefällt mir die Analogie zu Geld sehr gut. Da gibt es viele Gemeinsamkeiten.

Du beschreibst in deinem Buch das teils aggressive Verhalten von Jugendlichen, wenn man ihnen die Geräte abstellt. Woran können Eltern erkennen, ob ihr Kind gerade austickt, weil es süchtig ist, oder ob es einfach nur in der Pubertät ist und einen Hormonschub hat oder sich auflehnt?
Das Beispiel, das ich im Buch beschrieben habe, ist sehr typisch: Ein Junge ist gerade am gamen, und die Eltern haben schon mehrfach gesagt, er solle den Computer ausschalten. Irgendwann ist es ihnen zu blöd, und sie schalten das Modem oder den Computer einfach ab. Dann wird der Junge sauer. In dieser Situation muss man verstehen, was gerade abgeht: Der Junge hat in diesem Moment gerade seine Freunde im Stich gelassen, die nun einen Kampf mit einem Teammitglied weniger austragen müssen, weil er als Spieler einfach weggefallen ist. Wenn man die Struktur des Spieles kennt, kann man vielleicht ein bisschen besser nachvollziehen, warum er so sauer wird. Deshalb ist es grundsätzlich wichtig zu wissen, was denn eine Sucht oder ein exzessives Medienverhalten auszeichnet. Hier ist es wichtig zu erkennen, wann die Balance zwischen medialen und non-medialen Tätigkeiten verloren geht.

Wie soll man das einschätzen?
Ganz häufig haben Kinder Hobbies, wie zum Beispiel Fussball oder sonst ein Sport. Wenn das Hobby nun plötzlich reduziert wird und die Game-Dauer immer mehr ansteigt, wenn Kinder ihre Kollegen nicht mehr treffen – das alles sind wichtige Anzeichen. Auch wenn sie in der Schule einen Leistungsabfall haben oder sehr müde sind und in der Schule einschlafen, auch das ist ein Warnsignal, wenn es im Zusammenhang mit Mediennutzung steht. Und natürlich ist es auch eine Form von Entzugserscheinung, wenn Betroffene aggressiv werden, sobald sie ihre “Droge” nicht mehr haben können. Dann kommen Angst und Stress auf, und das wiederum zeigt sich in aggressivem Verhalten.

Du bringst Ideen für Eltern mit, wie man ein Kind sanft von der Onlinesucht wegführen kann. Eine Idee hat mir besonders gut gefallen. Du schlägst vor, einen Kurzfilm mit dem Kind zu drehen. Aber da müssen Eltern ja auch Zeit investieren und kreativ werden…
Nun ja, wenn es einem Kind erst einmal so schlecht geht, dass es mehrfach aggressiv ist, dann kommt man mit einem Kurzfilm wohl auch nicht viel weiter. Dann muss man professionelle Hilfe holen. Aber eine Methode speziell zur Vorbeugung – es hat im Buch ja auch viele Tipps zur Prävention – ist tatsächlich, zusammen einen kreativen Umgang zu finden. Wenn die Jugendlichen sehr selbständig sind, kann man sie auch alleine etwas machen lassen. Da müssen die Eltern nicht immer dabei sein. Sie können den Kindern auch Filme in Auftrag geben. Im Buch gebe ich das Beispiel, dass sie einen Film über ihr Haustier machen und die Familie portraitieren können aus der Sicht des Haustieres. Die Idee solcher Beispiele ist, dass die Jugendlichen einmal zeigen können, wozu sie fähig sind. Sie sind technisch nämlich meist sehr kompetent. Das ist bei den Eltern häufig nicht der Fall. Eltern haben andere Fähigkeiten im Rahmen der Medienkompetenz, wie zum Beispiel, die Konsequenzen, Risikobereiche und Glaubwürdigkeit der Medien besser abschätzen zu können. Ihre technischen Fähigkeiten sind aber manchmal nicht so stark. Wenn man nun diese zwei Teilbereiche (oft sind es sogar mehr, wenn die ganze Familie mitmacht) kombiniert, dann kann etwas sehr Schönes daraus entstehen. Da soll man der Kreativität auch einmal freien Lauf lassen, sodass Kinder auch Vorschläge machen können. Es kommt oft sehr viel von den Kindern, wenn man ihnen den Raum dazu gibt. Oft haben Kinder auch in der Schule schon Projektarbeiten gemacht, die man vielleicht auf neuere Medien übertragen kann. Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt, denn heutzutage ist vieles mit geringem finanziellem Aufwand möglich. Smartphones haben ja die meisten Jugendlichen. Diese kleinen Teile haben unglaubliche Möglichkeiten, man kann sogar Filme damit schneiden und bearbeiten. Und wem die Ideen ausgehen, der findet im Internet noch viele weitere Vorschläge… (lacht)

Das heisst, man gibt dem Jugendlichen einfach den Auftrag, einen Film über den Familienausflug zu machen?
Ja, dann kommen die jungen Menschen vielleicht sogar lieber auf den Familienausflug mit. Wenn sie wissen, dass sie einen Auftrag haben, an dessen Ergebnis alle Freude haben. Das macht viel mehr Spass als einfach nur mit zu laufen.

Was erhoffst du dir von diesem Buch?
Meine grösste Hoffnung ist, dass all die Leute, die Fragen haben und unsicher sind, Antworten finden und vielleicht ein paar Hinweise und Ratschläge dafür, wie sie mit der Situation umgehen können, auf was sie achten müssen. Das Wichtigste ist doch, dass sie erst einmal einschätzen können, ob ihr Kind überhaupt gefährdet ist, oder es sich noch in einem “normalen” Bereich bewegt. Das ist bei vielen Eltern die erste Frage, denn sie können das oft selbst nicht einschätzen. Die meisten Eltern sind selbst nicht mit dem Computer aufgewachsen, und durch die digitale Vernetzung haben Medien inzwischen eine ganz andere Funktion eingenommen als noch vor 10 oder 20 Jahren. Deshalb hat es auch Diagnosekriterien im Buch. Natürlich ist es wichtig, dass ein klinisches Wissen dazu kommt. Aber die Kriterien im Buch geben einen ersten Hinweis, in welche Richtung es geht. Für einige ist es vielleicht sogar eine Entwarnung.

Meine zweite Hoffnung ist, dass auch die positiven Seiten der Medien ein bisschen hervorgehoben werden und die Bereitschaft erhöht wird, sich selbst einmal auf das Thema einzulassen. Dass Eltern vielleicht einmal mit ihren Kindern gamen und versuchen, diese Welt zu verstehen. Eine Mutter hat in der Beratung einmal plötzlich gemerkt, dass auch sie früher Fantasy-Bücher verschlungen hat. Sie erinnerte sich, wie sie nachts noch unter der Bettdecke mit der Taschenlampe weiterlas, obgleich sie längst hätte schlafen müssen. Als sie dann die Analogie zu ihrer eigenen Jugend zog, hat sie verstanden, wo die Faszination der Spiele liegen kann. Solche Dinge versuche ich in meinem Buch anzuregen. Es soll Eltern und Kindern helfen, den Dialog wieder aufzunehmen, der bei einer Onlinesucht oft wie eingefroren scheint.


Das bringt der Ratgeber:

  1. Leserinnen und Leser bekommen einen Einblick in die aktuelle Medienwelt von Jugendlichen und erfahren, welche Medien häufig genutzt werden, was ihre genauen Inhalte sind und worin die Faszination für junge Menschen besteht.
  2. Das Buch vermittelt fundiertes Wissen darüber, was Onlinesucht eigentlich ist. Man bekommt zudem wichtige Hinweise, um die eigene Situation besser einzuschätzen.
  3. Die Entstehung von Onlinesucht ist sehr individuell. Das Buch liefert Ansätze, die dem Leser helfen, die Situation und die Bedürfnisse in Kontext zu bringen.
  4. Es werden viele Ideen für den Umgang mit Online-Medien vermittelt. Leserinnen und Leser erfahren, auf was man achten muss, wie man die eigenen Grenzen anerkennen und wann sich eine Familie eingestehen darf, dass sie professionelle Hilfe braucht. Damit man sich besser vorstellen kann, wie professionelle Hilfe aussieht, widmet das Buch diesem Thema ein ganzes Kapitel.
  5. Die praktischen Arbeitsblätter helfen Eltern, aber auch Betroffenen, mit gewissen Bereichen der Problematik umzugehen.


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